Zorn - Vom Lieben und Sterben: Thriller (German Edition)
gewohnten Gang.
Gehet hin in Frieden! , sang der Vikar zum Schluss und ging gemessenen Schrittes nach links durch eine kleine Tür in die Sakristei. Claudius und Gernot bekreuzigten sich und folgten ihm.
»Alles gutgegangen«, sagte der kleine Claudius erleichtert und rieb sich die klammen Hände. Es war kühl in der engen Sakristei. Der Vikar stand mit dem Rücken zu ihm, nahm die Stola ab, küsste sie und hängte sie in einen kleinen Schrank. Claudius wollte an ihm vorbeigehen und sich umziehen, doch der Priester drehte sich zu ihm um.
Der Junge sah zu ihm auf, lächelte, denn er erwartete ein Lob, ein paar nette Worte, schließlich war dies sein erster Gottesdienst gewesen, und er hatte alles richtig gemacht.
Der Priester schwieg.
Dann schlug er Claudius mit voller Kraft ins Gesicht.
Der Junge taumelte ein paar Schritte zurück, ein greller Blitz nahm ihm die Sicht. Zwei, drei Blutstropfen fielen auf das weiße Ministrantenhemd. Er hielt sich die pochende Wange und sah auf. Das Gesicht des Priesters war unbewegt. Nur seine Augen hatten sich verändert: Das war nicht mehr der Ausdruck einer traurigen Dogge. Sondern der Blick eines Kampfhundes. Dann wandte er sich schweigend ab und zog sich um.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis Claudius Zorn verstand, was soeben geschehen war, schließlich hatte man ihn noch nie in seinem Leben geschlagen. Er kämpfte mit den Tränen, doch irgendwie schaffte er es, nicht zu weinen.
Jetzt, dachte der kleine Claudius und sah nach oben, trifft ihn gleich ein Blitz. Er ist Priester, er hat mich geschlagen, weil ich gelacht habe. Das kann ihm Gott nicht durchgehen lassen.
Der Priester streifte die Soutane ab. Der Junge wartete, doch nichts geschah.
Okay, vielleicht hast du ja grade zu tun, lieber Gott, dachte Claudius, zog das Messgewand über den Kopf und wischte sich das Blut aus dem Gesicht. Ich gebe dir genau eine Woche. Wenn du ihn dann nicht bestraft hast, siehst du mich nie wieder.
Er erzählte niemandem von dem Vorfall, sondern behauptete, in der Sakristei gestolpert und sich am Kopf gestoßen zu haben. Dann wartete er sieben Tage.
Am folgenden Sonntag erklärte er seinen Eltern, dass er nie mehr eine Kirche betreten werde.
Was er dann auch nicht wieder tat.
Neun
Zorn war auf dem Rückweg ins Präsidium. Es fiel ihm schwer, sich auf den Verkehr zu konzentrieren, das Gespräch mit dem Pastor wollte ihm einfach nicht aus dem Kopf gehen. Er war nicht sicher, ob (und vor allem was ) er Giese glauben konnte. Aber das war er nach solchen Gesprächen nie, schließlich hielt er sich nicht für einen sonderlich guten Beobachter, was wiederum keine gute Voraussetzung für eine Vernehmung war. Was er mit Sicherheit wusste: Der Priester verschwieg ihm etwas. Dazu allerdings gehörte keine große Menschenkenntnis, schließlich hatte Giese keinen Hehl daraus gemacht. Dies wiederum war sein gutes Recht als Geistlicher, überlegte Zorn und seufzte ein wenig, als er den Volvo auf dem Parkplatz vor dem Präsidium abstellte.
Später, als er durch das Foyer lief, war er immerhin so weit, Giese aus dem Kreis der Verdächtigen auszuschließen, was ihn kurz darauf auf den Gedanken brachte, dass es diesen Kreis überhaupt nicht gab – bei näherer Betrachtung kam nämlich im Moment überhaupt niemand für den Mord an Björn Grooth in Frage.
Ganz so ist es nicht, brummte Zorn vor sich hin und bog in den engen, dämmrigen Flur ein, von dem sein Büro abging. Da gibt es noch die, die angeblich mit ihm befreundet waren, vor allem diesen aufgepumpten Udo-Arsch, den dürfen wir nicht vergessen, wir sollten ihn …
Er stockte.
Schräg gegenüber von seinem Büro standen ein paar graue Plastikstühle. Auf einem von ihnen saß Martha Haubold.
Zorn stutzte, ließ sich jedoch nichts anmerken. Er übersah die Hand, die sie ihm entgegenstreckte, öffnete stattdessen wortlos die Tür und bedeutete ihr mit einer Handbewegung, ihm zu folgen. Ging zum Fenster und riss es sperrangelweit auf. Setzte sich hinter den Schreibtisch und verzog kurz das Gesicht, als er das Leder des Bürostuhls an seinem wunden Hintern spürte.
Das Mädchen trug einen knielangen Rock und eine helle, bis zum Hals geschlossene Bluse, bis auf ein wenig Lippenstift war sie ungeschminkt. Sie stand in der Mitte des kleinen Zimmers und wusste offensichtlich nicht, was sie sagen sollte.
Zorn deutete auf einen Stuhl. »Nehmen Sie Platz, Frau Haubold.«
»Danke.« Sie setzte sich, zog sorgfältig den Rock glatt und faltete die
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