Zorn - Vom Lieben und Sterben: Thriller (German Edition)
hat Ihnen bereits ein Büro zugewiesen.«
»Das ist nicht nötig. Im Hotel habe ich alles, was ich brauche.«
Zorn sah verwundert auf.
»Im Hotel?«
»Ich arbeite lieber allein.«
»Das«, erklärte Zorn, und ein winziges Lächeln huschte über sein Gesicht, »kann ich sehr gut nachvollziehen. Wenn Sie Fragen haben, können Sie sich jederzeit an mich wenden. Je schneller Sie fertig werden, desto besser.«
»Das ist mir klar.«
»Gut. Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass Sie mehr Zeit als unbedingt nötig in dieser wundervollen Stadt verbringen wollen.« In der Tür drehte er sich noch einmal um. »Und passen Sie auf, dass Sie Ihre Schuhe nicht einsauen. Es soll heute noch regnen.«
Bevor Czernyk etwas erwidern konnte, hatte Zorn den Besprechungsraum verlassen.
*
»Mein Gott, es ist gleich Mittag, Eric! Musst du denn immer bis in die Puppen schlafen?« Frau Haubold stürmte ins Zimmer und riss das Fenster auf. »Und wie es hier wieder riecht! Hast du geraucht?«
Eric zog die Bettdecke über den Kopf und drehte sich zur Wand.
»Und getrunken hast du auch!« Sie schnüffelte demonstrativ und stemmte die Hände in die Hüften. »Du weißt, was Papa und ich davon halten. Wenn du eine eigene Wohnung hast, kannst du machen, was du willst. Aber vorher nicht, Freundchen!«
Eric brummte etwas Unverständliches und vergrub sich tiefer in den Kissen.
»In zehn Minuten gibt’s Mittagessen. Ich hab Sülzkotelett gemacht. Los jetzt!« Mit zwei Schritten war Frau Haubold am Bett, zog die Decke weg und gab Eric einen Klaps auf den Hintern. »Hoch mit dir!«
»Hör auf, Mama!« Eric legte schützend den Ellenbogen über die Augen. »Ich hab Ferien!«
»Zehn Minuten«, wiederholte Frau Haubold streng. »Und dusch dich gefälligst, du riechst wie ein Bierkutscher. Ich weck deine Schwester.«
Eine Minute später hallte ein spitzer Schreckensschrei durch das Haus der Haubolds.
Marthas Bett war leer.
*
Jan Czernyk saß in seinem Hotelzimmer, einem kleinen, sterilen Apartment mit Blick auf den staubigen Hinterhof des städtischen Kongresszentrums (ein halbes Dutzend Mülltonnen, verdreckte Bierkästen und eine umgekippte Holzkiste mit verfaulten Essensresten waren in der Aussicht inbegriffen). Sein Jackett hing sorgfältig zusammengelegt über der Stuhllehne. An der Tür hing das Bitte nicht stören- Schild, überall auf dem Teppich waren Fotos und Teile der Akten verstreut. Vor ihm, auf dem Tisch, stand sein Laptop, der über ein Kabel mit der Festplatte verbunden war. Daneben lagen ein Bleistift und ein weißer A4-Block. Czernyk machte sich kaum Notizen, aber wenn, dann tat er dies handschriftlich. Er hatte kein fotografisches Gedächtnis, das zu behaupten wäre übertrieben gewesen. Aber er vergaß niemals eines der Gesichter, die er in den Filmen sah.
Er war gut. Das war er deshalb, weil er seine Emotionen ausblenden konnte, er schaltete die Gefühle ab, bevor er eintauchte in diese dunkle, stinkende Kloake, sah sich um, nahm alles in sich auf, alles, bis in die letzten Einzelheiten, und blieb doch unbeteiligt an dem, was geschah. Das, so wusste er, war die einzige Möglichkeit, mit all dem Schmutz, der Folter und den Vergewaltigungen umzugehen, ohne davon verfolgt zu werden, ohne selbst wahnsinnig zu werden von dem Elend, das er in den Augen der Kinder sah.
Es war sein Job, seine Aufgabe. Die schlimmste, die man sich vorstellen konnte, aber jemand musste sie übernehmen. Ein paar von denen, die diese Filme gedreht hatten, waren mit seiner Hilfe unschädlich gemacht worden.
Wie lange das noch gutgehen würde, wusste er nicht. Die Bilder stapelten sich in einem Teil seines Hirns und irgendwann, wenn es zu viele waren, wenn das Fass überlief, würden sie über ihn herfallen. Aber noch war es nicht so weit.
Er startete das erste Video. Das Licht des Monitors spiegelte sich in den Gläsern seiner randlosen Brille, fiel auf sein bleiches, konzentriertes Gesicht.
Es gab einen Grund, weswegen er immer allein arbeitete. Neben dem Laptop stand eine Flasche Johnnie Walker. In ein paar Stunden, wenn er alle Filme durchgesehen hatte, würde sie leer sein.
*
Seit Stunden saß Zorn vor seinem Rechner und starrte auf das Youtube-Video.
Immer und immer wieder hatte er den Film gestartet, sah sich selbst zu, ein alberner, wirres Zeug stammelnder Clown, der irgendwann einfach umkippte, er hörte die höhnische Stimme der Reporterin ( Was für ein Hornochse! Ist der besoffen?) und verfolgte, wie sich die Zahl der
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