zorneskalt: Thriller (German Edition)
noch immer in der Luft und erinnert mich an das Bild, wie sie bewegungslos quer über dem Bett gelegen hat. Ich blinzele es weg. Laura summt vor sich hin, während sie Niamhs Sachen – die Outfits, in denen ich sie so oft gesehen habe – aus dem Kleiderschrank holt. Ich will sie nicht ansehen, denn ich weiß, dass ihr Körper sie sonst wieder ausfüllen würde, dass sie zum Leben erwachen und mich anschreien und verspotten würde. Und sie würde das von Verbitterung und Enttäuschung gezeichnete Gesicht wie früher haben.
Auf dem Bett türmen sich Kleidungsstücke und Schuhe, und Laura fängt an, sie nach unten zu tragen, um sie in ihrem Wagen zu verstauen. Wir wissen beide, dass wir bis zum Schluss weitermachen müssen, um uns von Niamh zu reinigen – oder zumindest will ich das. Laura will vielleicht nur diese Arbeit erledigen, weil sie sonst wie eine dunkle Wolke über ihr hinge.
Der Kleiderschrank ist fast leer bis auf ein paar Schachteln. Eine davon erkenne ich als den alten Schuhkarton mit der Ankle-Boots-Abbildung (12.99 £), in dem Niamh ihre Fotos aufbewahrt hat. Es ist derselbe Karton wie damals, als ich für die Schule meinen Stammbaum zeichnen musste. Darin finde ich eine Aufnahme von mir als Baby mit rotem Haarschopf und in grüner Latzhose. Und ein kleines Album mit ein paar eingesteckten Fotos. Eines davon zeigt einen jungen Mann Anfang zwanzig mit einem Säugling auf dem Arm. Sein Haar ist dunkel und lang, sein lächelndes Gesicht sieht umwerfend gut aus. Irgendetwas in diesem Bild setzt mir mit seiner Vertrautheit zu. Ein weiteres Foto zeigt Niamh mit diesem Mann. Sie ist schön, das lässt sich nicht leugnen, vielleicht wegen ihrer blitzenden, lächelnden Augen. Ich frage mich unwillkürlich, wer die junge Niamh gestohlen und durch die alte, verbitterte ersetzt hat. Das nächste Foto zeigt drei Personen im Freien, auf einer Parkbank. Es ist Winter, aber der Himmel leuchtet knallblau. Das Baby ist wieder mit dabei, sitzt in einem roten Schneeanzug und mit einem zahnlosen Lächeln im Gesicht auf Niamhs Knie. Ich drehe das Foto um, sehe auf der Rückseite das verblassende Datum Februar 1978 notiert – zehn Monate vor meiner Geburt.
Ich will gerade die übrigen Fotos aus dem Karton nehmen, als Laura zurückkommt. Als sie mich mit ihnen sieht, blitzt in ihren Augen etwas auf, das sofort wieder verschwindet. » Die wollte ich gerade holen«, sagt sie. » Ich bewahre sie für dich auf, einverstanden?« Und sie stößt herab und entführt den Karton mit seinen Hinweisen auf die Vergangenheit aus meiner Reichweite.
Ich muss diese Erinnerung in meinem Gedächtnis hinter Schloss und Riegel verwahrt gehalten, auf irgendeiner Ebene des Unterbewusstseins beschlossen haben, ihre Bedeutung zu ignorieren. Weil plötzlich alles so offensichtlich, so völlig blendend offenkundig ist, dass ich mich frage, wieso ich es nicht gesehen haben kann. Und seit ich es nun in leuchtend klaren Kodakfarben gesehen habe, gibt es kein Zurück mehr. In meinem Inneren entrollt sich etwas: die Lagen über Lagen von Lügen, aus denen meine Story, unsere Story besteht, Clara. Alles löst sich jetzt auf.
Niemand ist jemals, wer er zu sein scheint. Ich nicht. Du nicht.
22
Dass die Polizei den Fall als dringend ansehen würde, war unwahrscheinlich. Man konnte fast hören, was in der Einsatzzentrale gesprochen wurde – Das ist was für Sie, Sergeant, in einem Haus in Kensal Rise ist gelacht worden –, und obwohl Jake sich alle Mühe gab, die Zusammenhänge zu erklären, hatte man den Eindruck, d ie Polizei sehe keinen Anlass, mit Blaulicht auszurücken.
» Ich verstehe noch immer nicht, wie jemand hier reingekommen sein soll. Verdammt, das ist einfach bizarr«, sagte er, nachdem er aufgelegt hatte. Er begann, im Wohnzimmer auf und ab zu gehen, raufte sich dabei die Haare. Ich fragte mich, ob er anfing, an mir zu zweifeln, denn schließlich war dieses Szenario wenig plausibel. Genau das wolltest du erreichen, nicht wahr? Es sollte so aussehen, als verlöre ich allmählich den Verstand. » Wie kannst du sicher sein, dass das ihr Lachen war, Rachel? Ich meine, da könnte doch jeder gelacht haben.«
Siehst du, das ist der springende Punkt, Clara: Niemand hat verstanden, wie eng unsere Beziehung ist, wie wir einander bis ins Mark kennen.
» Es ist ihr Lachen«, sagte ich. » Das weiß ich todsicher.« Ich trat auf ihn zu, schlang ihm die Arme um den Hals und flüsterte ihm ins Ohr: » Du kannst gehen, wenn du möchtest. Ich würde
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