zorneskalt: Thriller (German Edition)
mustern, als sei auch ihnen eine Veränderung aufgefallen. Das sagen sie natürlich nicht. Der Tochter der Toten zu versichern, sie sehe gut aus, wäre ungehörig.
Was dich betrifft, Clara, siehst du überhaupt nicht gut aus. Du trägst wieder Orange, aber nicht dasselbe Kleid wie zu der Grillparty. An jedem anderen Tag würde ich lachen und feststellen, dass uns nur noch eine Farbe zu einer Verkehrsampel fehlt, aber ich weiß, dass dies kein Tag für solche Bemerkungen ist.
Der Raum ist voll, allerdings nicht so voll, dass Leute stehen müssten. Als der Vikar davon spricht, Niamh sei » eine geistvolle Frau« gewesen, denke ich an geistige Getränke und muss ein Lachen unterdrücken. Das Krematorium hat wandhohe Fenster, und die durch sie einfallende Sonne bleicht uns, wäscht die Rot-, Grün- und Blautöne unserer Kleider aus. Hier drinnen ist es so blendend hell, dass ich mir erlauben kann, eine Sonnenbrille zu tragen. Ab und zu, zum Beispiel als Tante Laura aufsteht und sagt: » Niamh war eine wundervolle Mutter, Schwester und Freundin, die gegen ihre Dämonen angekämpft hat«, tupfe ich mir mit einem von meiner Hand schweißnassen Papiertaschentuch die Augen ab. Sie sind trocken, aber das merkt niemand. Die Sonnenbrille ist meine Tarnung.
In Lauras Haus in Hove erwarten uns ein Büfett und Wein und Bier im Garten. Du siehst wie ein Gespenst aus, Clara, als wärst du gar nicht richtig da, und ich bin dein Schatten, folge dir überallhin und sorge dafür, dass du etwas isst und etwas trinkst, damit du nicht noch mehr abmagerst. Von den Leuten in unserer Umgebung wissen anscheinend viele nicht, wer die Tochter ist. Eine Frau mit Altersflecken auf ihren Händen und knochigen Fingern verwechselt uns und umarmt und betätschelt dich und sagt: » Du armes Ding, wir sind für dich da, wenn du was brauchst«, bevor sie verschwindet, um sich eine Pastete mit Garnelenfüllung zu schnappen. Weil deine Trauer so viel offenkundiger ist als meine, denke ich, kann man diesen Fehler leicht machen.
Ich lasse dich nur kurz allein, um aufs Klo zu flitzen, und als ich bei meiner Rückkehr den Raum überblicke, sehe ich dich bei Tante Laura stehen: leicht nach vorn gebeugt wie ins Gespräch vertieft. Mein Herz jagt, weil ich mich frage, was ihr zu besprechen habt, aber als ich mich euch nähere, hört sie auf zu schwatzen, wendet sich mir zu und sagt: » Wie schön für dich, Rachel, in dieser schlimmen Zeit eine Freundin wie Clara zu haben.« Ich lächle zustimmend.
Schließlich leert sich der Garten, und der Empfang ist Gott sei Dank zu Ende. Laura besteht darauf, uns heimzufahren, und setzt erst dich, dann mich ab. Für den Fall, dass mein Haus voller schmerzlicher Erinnerungen ist, hat sie mir bereits ein Zimmer bei sich angeboten. Aber ich versichere ihr, dass es okay ist, dass ich daheimbleiben will. » Ich denke nur, ich sollte Niamhs Sachen demnächst fortschaffen. Nicht alles«, sage ich, » aber du weißt schon … den Plunder, viel von dem Krempel.«
Sie nickt, weil sie ihre Schwester und deren Lebensweise kennt. Sie versteht, dass ich nicht so leben will.
Deshalb bin ich nur halb überrascht, als sie vor meinem Haus zusammengelegte Umzugskartons aus dem Kofferraum ihres Wagens holt. » Ich dachte, ich würde dir helfen, und gleich jetzt ist vielleicht der beste Zeitpunkt, nicht wahr?«
Ich bin ehrlich gerührt, denn ich weiß, dass es für sie schwer sein muss, eine Schwester zu verlieren, selbst eine trinkende, egoistische.
Wir fangen mit dem Wohnzimmer an, entsorgen die grässlichen Ethno-Decken und die Kissen mit den Brandlöchern von den Zigaretten. Die Kitschromane, unter denen sich die Regale der Bücherschränke biegen, landen in Kartons für den Oxfam-Laden. Wir reißen die Fenster auf, um zu lüften. Niamh wird von den Teppichen und Möbeln gesaugt und gewischt und poliert. Ich atme mehrmals tief durch – so frisch hat das Haus noch nie gerochen.
Oben entsorgt Laura im Bad halb leere Zahncremetuben und angebrochene Hennapackungen und breiige Nagellacke. Ich suche die Handtücher zusammen und stopfe sie bis auf meines, das Niamhs Haut nie berührt hat, in einen Müllsack. Die auf den Gängen aufgereiht stehenden schwarzen Säcke sind alles, was von ihr zurückgeblieben ist, und auch sie werden bald fort sein.
Wir erreichen im Schlafzimmer die Zielgerade. Ich habe mich nicht mehr hineingewagt, seit Laura es nach Niamhs Tod geputzt hat. Der Geruch von Erbrochenem ist schwächer geworden, aber er hängt
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