zorneskalt: Thriller (German Edition)
nach vorn, damit ich ihn ansehen musste. Ein warmer Speicheltropfen traf meine Wange.
» Jonny hat in Gatwick übernachtet. Er musste am Samstagmorgen sehr früh fliegen.«
» Wann haben Sie zuletzt mit ihm gesprochen?«
Die Frage lag auf der Hand. Ich war ungehalten, weil ich wusste, wie er auf meine Antwort reagieren würde.
» Gar nicht?«
» Sie haben nicht mehr mit Jonny gesprochen, seit er mit Clara unterwegs war?« Der Klang deines Namens in einem Satz mit Jonnys verletzte mich. Du und Jonny. Jonny und du. DCI Gunn war rot im Gesicht, und auf seiner Oberlippe bildeten sich Schweißperlen. Er leckte sich die Lippen, als witterte er Blut und machte sich bereit, mir den Todesstoß zu versetzen.
» Er macht Dokumentarfilme. Er dreht gerade in Afghanistan. Wenn er unterwegs ist, um einen Film zu machen, höre ich oft tagelang, manchmal eine ganze Woche lang nichts von ihm.«
» Aber Sie hätten erwartet, dass er anruft?«
» Nein, das hätte ich nicht erwartet. Er ist wie gesagt zu Dreharbeiten unterwegs. In Afghanistan. Manchmal bekommt man einfach keine Verbindung ins Ausland.«
Er lehnte sich zurück, verschränkte die Arme. Ich stellte mir vor, wie er seinen nächsten Angriff plante. Ich wollte aus diesem Albtraum erwachen und in mein Leben zurückkehren, das ich besessen hatte, bevor du verschwunden warst. Ich bemühte mich, meine ruhige, gleichmäßige Stimme wiederzufinden, um mich verteidigen zu können.
» Hören Sie, Roger«, sagte ich, » ich weiß wirklich nicht mehr, was hier läuft. Mir geht die Muffe, wenn Sie’s genau wissen wollen. Gestern habe ich erfahren, dass meine beste Freundin vermisst wird, und heute zeigen Sie mir ein Foto von ihr und meinem Freund, mit dem sie in der Nacht, in der sie verschwunden ist, zusammen war. Ich habe keine Ahnung, warum sie zusammen waren. Er hätte in Gatwick sein sollen. Eines weiß ich allerdings bestimmt: Sie beurteilen die Sache falsch, wie sie auch aussehen mag. Jonny würde mich niemals betrügen und wäre nicht imstande, jemandem etwas anzutun. Am wenigsten Clara. Er würde sie beschützen, weil sie meine Freundin ist und er weiß, dass wir schon lange befreundet sind.« Ich beobachtete, wie er die Lippen schürzte und sich das Kinn rieb. Ich hoffte, mich ihm verständlich gemacht zu haben.
Er sah auf und nickte, als habe er meine Worte zur Kenntnis genommen. » Hatten sie eine Affäre?«
» Gott, nein! Haben Sie denn nicht gehört, was ich gesagt habe?«
» Ich muss diese Fragen stellen, Rachel. Dass wir uns kennen, ändert nichts daran. Wir müssen Jonny finden, weil er Clara als Letzter gesehen zu haben scheint. Zu welchen Ableitungen das führen kann, brauche ich Ihnen nicht zu sagen.«
» Nun, wenn Sie sie finden, sagen Sie ihnen, dass nicht nur Sie ein paar Antworten erwarten.« Ich lächelte, zwang mich zu einem halben Lachen, um die Sache herunterzuspielen. Aber noch während ich das sagte, merkte ich, dass ich mich im Ton vergriffen hatte.
» Hoffentlich geht es so aus«, sagte er, wollte aber meinen Blick nicht erwidern. Er stand auf und kam hinter seinem Schreibtisch hervor, um mir die Hand zu schütteln. Seine Finger waren kalt und feucht wie Fensterkitt, aber er drückte so kräftig zu, als wollte er mir die Hand zerquetschen. » Ich melde mich wieder«, sagte er, als er mich zur Tür brachte.
Vor dem Polizeirevier lehnte ich mich an den Zaun, der das Gebäude umgab. Der Wind heulte vom Meer heran. Ich hielt ihm das Gesicht hin, weil ich hoffte, er würde mich aus meiner Benommenheit wecken. Warum, warum, warum? Warum war er mit dir zusammen gewesen, Clara? Warum hattest du dich nicht mit mir getroffen? Zorn durchflutete mich, lief kribbelnd mein Rückgrat hinauf und die Arme bis zu den Fingerspitzen hinunter. Die Vorstellung, Jonny könnte mich mit dir betrügen, war so abwegig, dass sie in meinem Kopf keinen Platz hatte. Das würde ich niemals glauben, außer ich sähe es mit eigenen Augen. Bisher hatte ich nur euch beide nebeneinander gesehen. Niemand wusste, was weiter passiert war. Die Polizei stellte Vermutungen an, die keine reale Grundlage hatten.
Weißt du, Clara, ich hatte Vertrauen zu Jonny. Ich hätte ihm mein Leben anvertraut. Aber dir? Ich begann mich zu fragen, ob ich dich überhaupt noch kannte. Als du nach vielen Jahren zurückgekommen bist, dachte ich, wir könnten dort weitermachen, wo wir aufgehört hatten. Naiverweise dachte ich, wir könnten unsere einstige Nähe durch reine Willenskraft zurückgewinnen.
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