zorneskalt: Thriller (German Edition)
Gott weiß, dass ich mich darum bemüht habe. Ich wollte da sein, um mich um dich zu kümmern, um dich zu stützen. Und ich dachte, es könnte funktionieren. Die Erinnerung an unseren gemeinsamen Skiurlaub war wieder da: du und ich und Jonny und sein Freund Luke, über Weihnachten. Das war erst einen Monat her, aber es schien bereits zu einem anderen Zeitalter zu gehören, in dem ich jemand anderes war – und du ebenfalls. Bei strahlendem Sonnenschein waren wir den ganzen Tag im Pulverschnee gecarvt. Wir hatten uns wie im siebten Himmel gefühlt. Nach der Talabfahrt strahlten wir alle übers ganze Gesicht. Wir waren voller Leben, strotzten förmlich davon.
» Die Runde geht auf mich!«, riefst du, als du deine Sonnenbrille abnahmst. Dein Gesicht glänzte, war gebräunt und von der kalten Luft gerötet. Um die Augen herum war die Haut weiß.
» Schneeeulenaugen«, sagte ich neckend.
» Du bist nur neidisch, weil ich auf der Piste schneller war, obwohl …« Du rammtest mir den Ellbogen in die Rippen. » Du musst in meiner Abwesenheit geübt haben.«
Du verschwandest in der Hütte und kamst mit vier Bier in großen, wasserperlenbenetzten Gläsern zurück. Wir saßen in der Dezembersonne auf der Terrasse mit Blick auf die Abfahrt und die Berge und waren uns alle darüber einig, noch nie habe ein Bier so gut geschmeckt.
» Los, Clara, komm schon, wo bist du sonst noch besser als Rachel?« Das war Jonnys Freund Luke, der sich offenbar in dich vergafft hatte.
» Schwimmen, Tennis …«
» Okay, Sport war in der Schule nicht mein Ding. Aber manches kann ich doch.« Ich stand auf und hielt mein Bier vor der Brust.
» Sag bloß nicht, dass du das noch kannst?«, fragtest du ungläubig.
» Manche Sachen verlernt man nie«, sagte ich und lachte trotz gewisser Zweifel. Dann setzte ich das Glas an und leerte es in einem Zug.
Ich hörte Jonny und Luke und dich beifällig johlen.
» Verdammt!« Jonny war sichtlich verblüfft. » Ich wusste gar nicht, dass meine Freundin solche verborgenen Talente hat.«
» Früher war ich mal ein echter Kerl«, sagte ich und gab ihm einen Kuss. » Aber seit ich eine Fernseh-Lady bin, mache ich das nicht mehr so oft. Und um meine Leistung festzuhalten, sollten wir ein Gruppenfoto machen.« Ich gab meine Kamera dem Snowboarder neben uns. » Vous pouvez prendre une photo, s’il vous plaît?«, fragte ich ihn.
» Yeah, kein Problem, Leute«, antwortete er mit einem starken Essex-Akzent, der uns alle losprusten ließ.
Wir drängten uns zusammen, hatten die Sonnenbrillen hochgeschoben, blinzelten in die Sonne. Ich weiß noch, wie ich mir wünschte, die Erinnerung an diesen Augenblick ewig bewahren zu können, auf dass sie nie mit der Zeit verblasse.
Als ich heimkam, druckte ich das Foto aus und steckte es in meine Geldbörse. Jetzt suchte ich es, als ich vom Polizeirevier wegging. Sie war noch da, die Aufnahme von uns vieren bei sinkender Wintersonne. Dann fielen meine Tränen auf das Papier – endlich Tränen –, und die Farben verliefen, sodass unsere Gesichter fleckig wurden und verschwammen. Ich konnte Jonny kaum mehr sehen, ich konnte mich nicht mehr sehen, aber das Lächeln auf deinem Gesicht blieb.
Auf dem Rückweg ins Hotel rief ich ihn mindestens zehnmal an. Jedes Mal hörte ich nur seine Tonbandstimme, die mich aufforderte, eine Nachricht zu hinterlassen. Ich hörte sie mir so oft an, dass ich genau wusste, wo eine kleine Pause kam, welche Worte er betonte und wann im Hintergrund eine ins Schloss fallende Tür zu hören sein würde.
» Hi, hier ist Jonny. Bin leider nicht zu erreichen. Hinterlasst eine Nachricht, und ich rufe zurück, sobald ich kann.«
Sobald ich kann. Wann würde er mich anrufen? Ich hatte mich nie mehr danach gesehnt, mit jemandem zu reden, meine Befürchtungen loszuwerden und sie sanft widerlegt zu bekommen. Rachel, alles ist okay, ich kann alles erklären.
Das Nichtwissen, die Warterei frustrierte mich so sehr, dass ich mir am liebsten das Gesicht zerkratzt hätte.
Nick, Luke und Sandra. Das waren die drei Namen, die herausstachen, als ich in meinem Adressbuch blätterte: Jonnys Freunde und seine Mutter. Ich musste sie anrufen, um zu erfahren, ob er sich bei ihnen gemeldet hatte, aber ich war noch nicht bereit, ihnen die ganze Geschichte zu erzählen. Ich wollte keine Kettenreaktion auslösen, meine Ängste und Sorgen auf andere übertragen und es der Situation ermöglichen zu atmen und zu wachsen und zu etwas zu mutieren, das weit ernster wirkte,
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