Zu cool für dich
drei Tage und zwei Nächte in vollen Zügen, von allen bewundertzu werden. Chris wohnte mittlerweile quasi bei Jennifer Anne, wo das Brot nicht nur aus Stummeln bestand und er sich beim Frühstück an geschmackvoll gerahmten Postern heiterer Blumengärten erfreuen konnte, anstatt vom Anblick schwergewichtiger Renaissancebrüste erschlagen zu werden. Normalerweise fand ich es Klasse, das Haus für mich allein zu haben; doch weil die Situation zwischen mir und Don immer noch leicht angespannt war, hatte ich Lissas Angebot, an diesem Wochenende bei ihr zu übernachten, angenommen und Don meine Absicht (in ziemlich dürren Worten) auf einem Zettel mitgeteilt, den ich unter die ständig wachsende Dosenpyramide auf dem Küchentisch klemmte.
Ich ging durch den Perlenvorhang ins Arbeitszimmer meiner Mutter. Auf dem Regal neben ihrem Schreibtisch lag ein Stapel Papier: ihr neuer Roman beziehungsweise das, was vom Manuskript bis zu ihrer Abreise fertig geworden war. Ich setzte mich im Schneidersitz hin, legte die Blätter auf meinen Schoß und überflog die Seiten. Bei unserer letzten Begegnung hatte Melanie in ihrer Hochzeitsnacht auf ihren kühl und distanziert wirkenden Ehemann gewartet und begriffen, dass diese Heirat ein großer Fehler gewesen war. Das war ungefähr auf Seite 200; auf Seite 250 verließ sie Paris, kehrte nach New York zurück und arbeitete als Modedesignerin für eine Frau, der man an der Nasenspitze ansah, was für ein hinterhältiges Biest sie war. Offenbar – was für ein Zufall! – lebte auch Brock Dobbin wieder in New York, nachdem er in irgendeinem Dritte-Welt-Land bei politischen Unruhen verletzt worden war. Der Gute machte nämlich gerade eine steile Karriere als Fotoreporter. Aufeiner Modenschau für die Winterkollektion trafen die beiden sich dann endlich wieder. Ihre Blicke begegneten sich über den Laufsteg hinweg und eine leidenschaftliche Liebe entflammte aufs Neue.
Ich blätterte vor zu Seite 300. Offenbar war einiges drastisch schief gelaufen: Melanie lag mit Beruhigungsmitteln voll gestopft auf der psychiatrischen Station eines Krankenhauses, während ihre ehemalige Chefin sämtliche Lorbeeren für die Winterkollektion allein einheimste. Luc, Melanies Ehemann, von dem sie sich entfremdet hatte, war wieder auf der Bildfläche erschienen und in eine komplizierte Betrugsgeschichte im internationalen Finanzgeschäft verwickelt. Brock Dobbin dagegen schien komplett abgetaucht zu sein, bis ich ihn auf Seite 374 in einem mexikanischen Gefängnis wiederfand. Er sollte wegen Drogenschmuggels angeklagt werden, was natürlich das Ergebnis einer hinterhältigen Intrige war. Und er erlag beinahe den Verführungskünsten einer armen, aber bildschönen Mexikanerin namens Carmelita. An dieser Stelle hatte meine Mutter anscheinend ein wenig den roten Faden verloren. Doch schon auf Seite 400 gewann sie den Überblick und ihren gewohnten Schwung wieder: Sämtliche Figuren versammelten sich in Mailand und bereiteten die nächsten Modenschauen für die nächste Winterkollektion vor. Luc wollte sich mit Melanie aussöhnen, hegte jedoch finstere Absichten. Brock war wieder voll im Geschäft und einer sensationellen Story über die schmutzige Kehrseite der glitzernden Modewelt auf der Spur. Unterstützt von seiner treuen Nikon und einem untrüglichen Gerechtigkeitssinn, den weder Anfeindungen noch Anschläge auslöschen konnten; nichtmal der Felsbrocken, den er in Guatemala auf den Kopf bekommen hatte, vermochte ihn aufzuhalten.
Auf dem letzten Blatt in meinem Schoß stand die Seitenzahl 405; Melanie und Brock saßen in einem Mailänder Café und tranken Espresso.
Sie verschlangen einander mit den Augen. Als könnte die übergroße Sehnsucht, die sie in der vergangenen Zeit empfunden hatten, nur durch Blicke gestillt werden, nicht durch Worte. Obwohl Melanie ihre Hände in ihrem Seidenschal vergrub, zitterten sie; der hauchzarte Stoff bot kaum Schutz vor der kühlen Brise.
»Liebst du ihn?«, fragte Brock. Seine grünen, wachen Augen betrachteten sie aufmerksam.
Seine Direktheit schockierte Melanie. Doch seine Zeit im Gefängnis schien bei ihm eine gespannte Offenheit hinterlassen zu haben, eine Dringlichkeit, Fragen zu stellen und Antworten zu erhalten. Er sah sie stumm an und wartete. »Er ist mein Mann«, entgegnete Melanie.
»Danach habe ich dich nicht gefragt.« Brock nahm ihre Hand in seine beiden Hände. Er hatte Schwielen an den Fingern; seine Hände an ihrer weichen, blassen Haut
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