Zu cool für dich
zu ertrinken. So wie jetzt gerade. Aber noch konnte ich mich aus eigener Kraft aus dem Wasser ziehen. Und würde das auch konsequent tun!
In einem Anfall von Schwäche hatte ich ihm mal erzählt, was der Song für mich bedeutete. Es war ein Moment der Ehrlichkeit gewesen, der Herzensbeichten; normalerweise versuchte ich in meinen Beziehungen solche Momente zu vermeiden. Die Vergangenheit war tückisch, voller Landminen. In der Regel achtete ich sorgfältig darauf, einem Typen nicht zu viele Einzelheiten über mich mitzuteilen; auf der Landkarte, die ich von mir rausrückte, ließ ich absichtlich eine Menge weiße Flecken. Und dieser Song –
der
Song – war einer der wichtigsten Schlüssel, die es zu mir gab. Wie ein wunder Punkt, ein Schnitt, der niemals richtig verheilte. Exakt an diesem Punkt würden sie angreifen und zuschlagen, wenn die Zeit gekommen war. Garantiert. Das wusste ich genau.
»Du willst das Lied nicht hören?«, fragte er.
»Nein, will ich nicht.«
Als ich es ihm erzählte, war er total verblüfft gewesen. Wir hatten gerade eine kleine Wette laufen, oder vielmehr ein Spielchen nach dem Motto: Rate mal, was du alles nicht über mich weißt und worauf du auch nie kommen würdest. Dabei fand ich heraus, dass er gegen Himbeeren allergisch war, sich im sechsten Schuljahr einen Vorderzahn ausgeschlagen hatte, als er gegen eine Parkbank raste, und dass seine erste Freundin eine entfernte Cousine von Elvis gewesen war. Ich hatte ihm verraten, dass ich mir beinahe – beinahe! – den Bauchnabel gepierct hätte, dann aber doch in Ohnmacht gefallen war; dass ich als Pfadfinderin einmal mehr Plätz chen für wohltätige Zwecke verkaufte als alle anderen aus meiner Gruppe. Und dass Thomas Custer mein Vater war, der
Wiegenlied
für mich komponiert hatte.
Natürlich kannte er den Song, summte sofort die Melodie. Er wusste sogar den Text auswendig. Sie hätten es ein paarmal auf Hochzeiten gespielt, erzählte er. Viele Bräute suchten sich das Lied aus, um mit ihrem Vater dazu zu tanzen. Mir kam das reichlich idiotisch vor, schließlich heißt es in dem Lied:
Ich werde dich verlassen
. Gleich in der ersten Strophe, unüberhörbar. Was für eine Art Vater ist das, der so was sagt? Natürlich hatte ich schon vor langer Zeit aufgehört diese Frage zu stellen.
Er zupfte immer noch probeweise die Akkorde vor sich hin, dort im Dunkeln.
»Dexter, lass das.«
»Warum hasst du dieses Lied?«
»Ich hasse es nicht. Ich finde bloß ... es steht mir einfach bis hier und Punkt.« Aber das stimmte nicht. Manchmal hasste ich das Lied tatsächlich. Weil es so verlogen war. Als hätte mein Vater es geschafft, sich mit ein paar Versen, die er in einem billigen Motelzimmer auf einen Zettel kritzelte, für sein mieses Verhalten zu entschuldigen. Es war ihm zu lästig gewesen, mich kennen zu lernen, geschweige denn sich um mich zu kümmern. Also schrieb er einen netten Song, den alle super fanden, und das war’s. Er lebte sieben Jahre lang mit meiner Mutter zusammen. Es waren größtenteils gute Jahre, bis zu ihrem allerletzten Krach, der dazu führte, dass er nach Kalifornien abhaute, als sie mit mir schwanger war – wobei sie das zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste. Zwei Jahre nach meiner Geburt starb er an einem Herzinfarkt. Er schaffte es nie, auch nur ein einzigesMal zurückzukommen, zu uns in den Osten, um mich zu sehen. Dieser Song war seine ultimative Beichte und ein sehr praktisches Selbstbekenntnis dazu. Denn da gestand er vor aller Welt, dass er mich im Stich gelassen hatte – wie überaus ehrenwert, nicht wahr? Wenigstens gesteht der Mann es ein, nicht wahr? Aber für mich war es so, als hätte er mich mit diesen Worten, die über seinen Tod hinaus existierten, k.o. geschlagen, bevor ich überhaupt mitkriegte, was abging. Ich dagegen – was konnte ich schon machen? Ich hatte ja nicht mal die Chance zu antworten. Er hatte sich alle Worte gegrabscht und mir keine gelassen, mit denen ich hätte widersprechen können.
Dexter spielte ziellos auf der Gitarre rum, keine zusammenhängenden Melodien, einfach nur vor sich hin. Er sagte: »Schon komisch – ich kenne den Song seit Ewigkeiten, wusste aber nie, dass er für dich geschrieben wurde.«
»Ist bloß ein Lied.« Ich fuhr mit meinem Finger die Konturen der Schneekugeln auf dem Fensterbrett nach. »Ich habe ihn nie kennen gelernt.«
»Schade. Ich wette, er war ein cooler Typ.«
»Vielleicht.« Es war ein seltsames Gefühl, über
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