Zu gefährlicher Stunde
nahm meine Entschuldigung nicht an.
Sobald ich die Nadel entfernt hatte, sauste er davon und versteckte sich unter
dem Bett im Gästezimmer.
Es war offenbar Zeit, Verstärkung
herbeizurufen.
»Ist doch nichts dabei«, meinte
Michelle Curley. »Ich kümmere mich ständig um die Katze einer Familie drüben in
der Chenery Street, die hat auch Diabetes. Kommen Sie, ich zeig Ihnen, wie’s
geht.« Der Teenager mit der Stachelfrisur von nebenan, der mein Haus und meine
Katzen betreute, wenn ich unterwegs war, ging mit mir in die Küche und machte
sich zuversichtlich daran, eine neue Spritze aufzuziehen.
»Hauptsache, Sie geraten nicht in
Panik.«
»Tu ich nicht«, log ich.
»Die richtige Einstellung ist alles.«
Sie führte mich ins Gästezimmer, legte sich auf den Bauch und rutschte unters
Bett. »Hey, Ralphie, altes Haus. Was hat die Mama mit dir angestellt? Schon
gut, ich weiß, aber jetzt ist Michelle hier, das wird total cool. So ist’s
brav. War gar nicht so schlimm, oder?«
Sie tauchte wieder auf und hielt Ralph
im Arm. »Ich weiß gar nicht, warum Sie solche Probleme hatten. Er ist doch ein
echtes Schmusekätzchen.«
»Vermutlich war er noch durcheinander,
weil ich gestern mit ihm bei der Tierärztin war. Darum hat er sich gewehrt.«
»Er wirkt aber gar nicht
durcheinander.« Sie gab mir den Kater.
Ralph schnurrte.
»Na ja, ich weiß nicht, er war
jedenfalls nicht sonderlich kooperativ.« Ich warf einen Blick auf die Spritze,
die sie noch in der Hand hielt, und wandte mich ab.
Michelle runzelte die Stirn und grinste
dann. »Das glaube ich einfach nicht.«
»Was?«
»Die harte Privatdetektivin. Bewaffnet
mit einer 357 Magnum. Ausgebildete Pilotin. Und hat Angst vor einer kleinen Nadel.«
»Ich habe keine — «
»Ralph hat Ihre Angst gespürt und sich
deshalb gefürchtet.«
»Ich habe nicht — «
»Hören Sie mal, Shar, mit
Tierpsychologie kenne ich mich aus. Mit menschlicher auch. Wenn Sie solche
Angst vor Spritzen haben, wird das nie was.«
»Danke für das Vertrauen.«
»Wie off müssen Sie ihm die Spritzen
setzen?«
»Zweimal täglich.«
»Das wird aber schwierig, wenn Sie auf
Reisen sind oder spät nach Hause kommen. Und Sie sind off auf Reisen und kommen
spät nach Hause.«
Daran hatte ich auch schon gedacht.
»Ich könnte einspringen«, fügte
Michelle hinzu.
Und jetzt kam der Preis.
»Für, sagen wir...« Sie verzog den
grell geschminkten Mund und verdrehte nachdenklich die Augen. »Für zwanzig
Dollar im Monat würde ich Ralph die Spritzen setzen.«
Michelle verdiente bereits ein nettes
Sümmchen an mir. Nicht dass ich es ihr nicht gönnte; sie war äußerst
gewissenhaft und angenehm im Umgang. Als ich nach dem Tod meines Vaters aus San
Diego zurückkam, hatte sie mir beispielsweise frische Blumen hingestellt.
Dennoch wunderte ich mich manchmal über dieses Mädchen, dessen erklärtes
Lebensziel es war, einen Haufen Geld zu verdienen und Immobilienmaklerin zu
werden...
»Wenn Sie es lieber selbst machen
möchten, würde ich natürlich einige Monate mit Ihnen zusammen daran arbeiten — das
wären dann nur zehn Dollar im Monat — , bis Sie es allein schaffen.«
Ja, sie verstand eindeutig etwas von
menschlicher Psychologie.
»Zwanzig Dollar im Monat erscheinen mir
angemessen«, erwiderte ich.
Nachdem Michelle gegangen war, hob ich
den Hörer ab, zögerte und legte wieder auf. Falls Hy entschlossen war zu
schweigen, würde ich es auch tun.
Seit den Ereignissen vom 11. September
war Hy als internationaler Sicherheitsfachmann und Unterhändler für
Geiselnahmen sehr eingespannt gewesen und hatte nun einen wohlverdienten Urlaub
genommen. Er verbrachte diese Woche auf seiner Ranch beim Tufa Lake. Bei gutem
Wetter würde er morgens reiten und nach den Schafweiden sehen, die ihm sein
Stiefvater vor Jahren vermacht hatte. Bei schlechtem Wetter würde er in seinem
gemütlichen Wohnzimmer am Kamin sitzen, seine Sammlung von Westernromanen und
Sachbüchern zu diesem Thema durchstöbern und jeden Band anlesen, bis er einen
fand, der ihm gefiel. Doch was er auch tun mochte, ich war sicher, er dachte
dabei an mich.
Zwischen Hy und mir hatte es immer eine
seltsame geistige Verbindung gegeben, und ich spürte seine Stimmungen, als säße
er neben mir. Heute war er nachdenklich und geduldig. Wartete auf den rechten
Augenblick, ohne sonderlich besorgt zu sein. Gab mir die Chance zu entscheiden,
wie unsere Zukunft aussehen sollte. Wollte keinen Druck ausüben und rief daher
auch nicht
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