Zu gefährlicher Stunde
Sie gern zum Mittagessen einladen, bevor Sie abreisen.«
»Das würde mich freuen, aber ich muss
Sie leider auf nächsten Monat vertrösten, wenn ich die Ausstellung wieder
abbaue. Ich fliege heute Nachmittag zurück nach Santa Barbara. Unsere Tochter
treibt meinen Mann in den Wahnsinn. Gabriela hat es faustdick hinter den Ohren.
Genau wie früher meine Schwester und ich, nur musste meine Mutter — sie hieß
auch Gabriela, ich habe meine Tochter nach ihr benannt — allein mit uns beiden
klarkommen. Ich rufe Sie an, bevor ich wiederkomme, ich würde nämlich gern mehr
über Ihre Arbeit erfahren. Ich hatte selbst einmal... mit einem Verbrechen zu
tun.«
Mit diesem aufreizenden Hinweis
beendete Oliverez das Gespräch.
Noch eine interessante Information:
Alex Aguilar war verreist. Also würde ich ihm nicht über den Weg laufen, wenn
ich mich bei Trabajo para Todos umsah.
Als ich durch die Mission Street zum
Ausbildungszentrum fuhr, überwältigte mich das Gewirr der Farben.
Rot-weiß-grüne mexikanische Flaggen flatterten vor einer Bäckerei im Wind.
Mobiles in Rosa, Safrangelb und Türkis kreiselten träge vor einem Asienladen.
In den Kisten davor stapelten sich Artischocken, Orangen, Avocados, Grapefruits
und Limonen. Ein schwarzer, tiefer gelegter Schlitten mit leuchtendem
Flammenmuster glitt vorbei. Eine Frau trug einen Sari in Purpurrot und Grün.
Mauern waren mit vielfarbigen Wandgemälden im Ethno-Stil geschmückt. Lärm drang
in meine Ohren: Salsa und Rap, Autohupen, Schreie und die kreischenden Bremsen
einer Straßenbahn. Die Luft war erfüllt vom Geruch brutzelnder Tortillas,
exotischer Gewürze, es duftete nach Sesamöl, Curry und Bratfett. Als ich an der
Seventeenth Street vor einer Ampel hielt, fiel ein rot-gelb-blauer Stoffpapagei
vom Himmel, prallte von einer Parkuhr ab und landete auf dem Gehweg. Als ich
hochsah, entdeckte ich im zweiten Stock das lachende braune Gesicht eines
kleinen Mädchens.
Ende des 19. Jahrhunderts wurde der
Mission District zur Durchgangsstation für die Einwanderungswellen, die über
die Stadt schwappten. Neu angekommene Iren, Deutsche und Italiener ließen sich
hier nieder und begründeten ein solides Arbeiterviertel. In den dreißiger
Jahren kam die Welle der Lateinamerikaner, die ihren Höhepunkt in den
Fünfzigern erlebte, und der Bezirk blieb jahrzehntelang in hispanischer Hand.
In jüngster Zeit siedeln sich zunehmend Asiaten und Schwarze an. Das Ergebnis
ist ein Schmelztiegel im wahrsten Sinne des Wortes. Die Gegend hat mit
Problemen zu kämpfen — die Stadterneuerung verdrängt langjährige Bewohner des
Stadtteils, der zudem unter Drogen, Kriminalität, Obdachlosigkeit und
Geldmangel bei dringenden sozialen Projekten leidet — , aber es werden auch
Gemeinschaftsgärten angelegt, bunte Straßenfeste gefeiert, Clubs, Restaurants
und Boutiquen siedeln sich an und locken Kunden aus den wohlhabenderen Vierteln
der Bay Area hierher. Vor vielen Jahren hatte ich im Herzen des Mission
Districts gelebt und war ihm auch heute noch verbunden. Schon damals war es
eine interessante Gegend, heute ist sie von pulsierendem Leben erfüllt.
Parkplätze gab es natürlich immer noch
keine...
Ich umrundete den Häuserblock, in dem
das Zentrum lag, fuhr auf der Capp Street auf und ab. Keine Parklücken, nur ein
Maschendrahtzaun, hinter dem ein kleiner Parkplatz lag. An einem Hintereingang
entdeckte ich ein Schild für Trabajo para Todos. Ich fuhr hinein und
quetschte meinen MG zwischen zwei monströse Geländewagen.
Eine Betontreppe führte zum Eingang,
der nicht verschlossen war. Drinnen hörte ich Frauenstimmen. Ich ging durch
einen Flur mit Teppichboden und warf einen Blick in den Raum, aus dem die
Stimmen kamen. Mindestens fünfzig Frauen saßen an langen Tischen, und ihre
ratternden, surrenden Nähmaschinen versuchten, mit der Unterhaltung Schritt zu
halten. Eine Bekleidungsfabrik, aber kein Ausbeuterbetrieb. Das merkte ich
sofort. Die Arbeiterinnen waren fröhlich und fleißig, vermutlich
gewerkschaftlich organisiert und gut bezahlt.
Ein Schild neben dem Aufzug verriet
mir, dass sich das Ausbildungszentrum im ersten Stock befand. Ich entschied
mich für die Treppe, da ich in letzter Zeit nur selten zum Schwimmen in den
Fitnessklub gekommen war und mir Bewegung verschaffte, wo immer es ging.
Eine Reihe von Pfeilen an den
blassgrünen Wänden wies mir den Weg durch ein Labyrinth von Fluren, vorbei an
verschlossenen Türen, durch deren Fenster kein Licht fiel. Kein
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