Zu gefährlicher Stunde
Wunder,
heutzutage standen viele Büros in der Stadt leer, vor allem in den
Randgebieten. Am Ende des letzten Flurs führte eine Doppeltür in die Verwaltung
des Ausbildungszentrums.
Der Junge hinter der kleinen
Empfangstheke hatte limonengrünes Haar und diverse Gesichtspiercings. So holte
man also benachteiligte Jugendliche zurück ins Arbeitsleben. Ich musste an meinen
Halbbruder Darcy Blackhawk denken, der, als ich ihn kennen lernte, purpurrotes
Haar und Piercings gehabt, inzwischen aber das Altmetall entfernt und sein Haar
wieder schwarz gefärbt hatte, um an seine shoshonischen Wurzeln anzuknüpfen.
Ich persönlich bezweifelte, dass der ehemals drogensüchtige Darcy jemals echte
Bindungen aufbauen würde; er lebte in seiner eigenen Welt, die ihn vor den
Dämonen des wirklichen Lebens schützte.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte der
Junge.
»Das hoffe ich. Ich bin freie Journalistin
und würde gern einen Artikel über Ihre Organisation schreiben. Ist jemand hier,
mit dem ich darüber reden kann?«
»Mein Dad, Gene Santamaria. Ich höre
mal nach, ob er Zeit hat.«
Er sprach kurz in den Hörer und legte
auf. »Er kommt gleich. Nehmen Sie doch bitte Platz.«
Der erste Eindruck konnte wirklich
täuschen. Santamarias Sohn war so höflich und tüchtig, dass er sogar Ted
überzeugt hätte.
Ich setzte mich auf einen Klappstuhl
aus Metall und betrachtete die Nachrichten, die am Schwarzen Brett gegenüber
hingen. Die meisten waren auf Spanisch und informierten — soweit ich es mit
meinen eingerosteten Sprachkenntnissen verstehen konnte — über alles mögliche,
von einer Fiesta mit Essen und Tanz bis hin zu einem Frauenhaus. Die Tür hinter
dem Empfang stand offen, und von drinnen hörte man Gelächter, Babygeschrei und
eine zackige Stimme, die nur einer Aerobic-Lehrerin gehören konnte.
Fünf Minuten später kam ein großer,
kahlköpfiger Mann mit ausladendem Schnurrbart, der mich an Hy erinnerte, zur
Tür herein. Er sah den Jungen an, der zu mir hinübernickte, und kam mit
ausgestreckter Hand auf mich zu. »Gene Santamaria, Programmkoordinator. Und Sie
sind?«
Ich stand auf und ergriff seine Hand.
Dann stellte ich mich spontan und weil ich eben noch an Darcy gedacht hatte mit
dem Namen meiner Halbschwester vor. »Robin Blackhawk, freie Journalistin, die
ums Überleben kämpft.« Eigentlich studierte Robin Jura und hatte vor, im
September von der University of Idaho nach Berkeley zu wechseln.
Santamaria ließ meine Hand los, trat
zurück und musterte mich mit hochgezogenen Augenbrauen. »Ums Überleben kämpfen
Sie? Ich wusste gar nicht, dass man sich dabei so stilvoll kleiden kann.«
Ich trug ein Kostüm von Donna Karan,
weil ich nachmittags einen Termin mit einem wichtigen Klienten hatte. Das
Kostüm war zwei Jahre alt und kam mir noch immer extravagant vor, passte aber,
wie Ted mit versichert hatte, perfekt zum Image einer erfolgreichen
Geschäftsfrau.
Manchmal sehnte ich mich nach den
Zeiten, in denen ich nur Jeans getragen hatte!
»Lassen Sie sich nicht von meinem Stil
täuschen — ich habe das Kostüm noch aus Zeiten des IT-Booms.«
»Oh, ein weiteres Opfer dieser
furchtbaren New Economy.«
»Ja, aber so konnte ich immerhin zu dem
zurückkehren, woran mir wirklich liegt. Schreiben und damit Dinge bekannt
machen, die es verdient haben. So wie Ihr Ausbildungszentrum.«
»Und wo wird der Artikel erscheinen?«
»Ich schreibe ihn auf eigenes Risiko,
hoffe aber, ihn in der Sonntagsbeilage des Chronicle unterzubringen. Und
in anderen Zeitungsbeilagen.«
Er überlegte kurz und nickte. »Zufällig
habe ich eine halbe Stunde Zeit. Ich führe Sie herum, später können wir uns
dann in meinem Büro unterhalten.«
Santamaria begleitete mich durch die
Tür am Ende des Empfangsbereichs. Von rechts ertönte die zackige Stimme von
vorhin, begleitet von Musik und gelegentlichem Stampfen. »Aerobic-Kurs?«,
fragte ich.
»Ja. Unser Zentrum zielt darauf ab,
Bewerber so auszubilden, dass sie in jeder Hinsicht geeignet — also auch
körperlich fit sind. Da drüben — «, er deutete nach links, »befindet sich unser
Sprachlabor. Die Klienten lernen Englisch mit Hilfe von Lehrbüchern und
Audioprogrammen und natürlich auch im gemeinsamen Unterricht.«
Im Raum nebenan heulte ein Kind.
»Unsere Tagesstätte.«
Ich spähte in ein Zimmer voller Kleinkinder,
die mit buntem Spielzeug beschäftigt waren. An einer Wand standen Bettchen.
Eine Frau hockte am Boden und tröstete das weinende Kind, das wild auf ein
kleines
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