Zu gefährlicher Stunde
unüberhörbar.
Da war es wieder. Ein Wimmern.
Jemand schien verletzt. Ein Tier?
Jetzt erklang ein Stöhnen.
Kein Tier. Ein Mensch.
Ich spähte in die Dunkelheit. »Hallo?«
Keine Antwort.
Ich leuchtete mit meiner kleinen
Taschenlampe umher.
Eine Gestalt lag zusammengekrümmt am
Zaun. Eine Gestalt in Jeans und lederner Bomberjacke. Ähnlich der, die Julia
letzten Monat für zehn Dollar in einem Secondhandladen gekauft hatte. Sie hatte
sie heute getragen —
»Mein Gott!«
Ich ließ mich neben ihr auf die Knie
fallen. Berührte ihren Hals, darauf bedacht, sie nicht zu bewegen.
Der Puls ging schwach. Ihr Kopf rollte
auf meinen ausgestreckten Arm. Ihr heißer Atem brannte an meiner Wange.
»Jules, ich bin es, Sharon. Ich bin bei
dir.«
Keine Antwort.
Ich tastete nach meinem Handy.
Verdammt, warum lag es immer ganz unten in der Tasche, wenn ich es dringend
brauchte?
Julia wimmerte wieder.
»Ich bin da. Alles wird gut.« Ich
wählte den Notruf.
Ihre Hand schloss sich um mein Handgelenk,
rutschte ab, ich sah, dass sie blutverschmiert war. Eine Schuss- oder eine
Stichverletzung.
»Neun eins eins«, meldete sich der
Notruf.
»Stich- oder Schusswunde. Embarcardero,
südlich von Pier achtundzwanzig. Kode drei.«
»Bleiben Sie dran, Ma’am.«
»Halt durch, Jules.« Mit meiner freien
Hand ertastete ich, woher das Blut kam. Ihr Pullover war völlig durchweicht.
»Hilfe ist unterwegs, Ma’am. Ihren
Namen bitte.«
Ich nannte meinen Namen, während
ungeheure Wut in mir aufstieg.
»Wir kommen sofort, Ma’am. Bleiben Sie
dran.«
»Okay. Sie kommen, Jules. Alles wird
gut.«
Julias Schwester, Sophia Cruz,
klammerte sich weinend an mich. Wir standen im grellen Licht des Wartezimmers
in der Notaufnahme des San Francisco General Hospital. Julia war im OP. Eine
Kugel steckte in der linken Brust, sie hatte ihr Herz knapp verfehlt.
Ich streichelte Sophia über das dichte
graumelierte Haar und schaute hilflos zu Mick hinüber, den ich zum Tatort
bestellt hatte. Er half mir, Sophia auf einem Stuhl in der Ecke zu platzieren.
Gott sei Dank war es ein vergleichsweise ruhiger Abend.
Ich setzte mich neben sie und ergriff
ihre Hand. »Jules kommt durch«, sagte ich und fragte mich, ob es sich für sie
genauso grundlos optimistisch anhörte wie für mich. »Sie ist stark, eine
Kämpfernatur.«
»Wenn nicht, ist Tonio...« Erneutes
Schluchzen.
»Sie schafft es schon.«
»Ich komme mir so schlecht vor. Nach
allem, was ich ihr angetan habe.«
Ich sah einen Doktor im grünen Kittel
durch die breite Automatiktür kommen. Er ging zu einem besorgt dreinblickenden
chinesischen Paar, das uns gegenübersaß.
»Ich habe grausame Dinge zu ihr gesagt.
Sie hat so viele Probleme, und ich konnte trotzdem nicht den Mund halten. Nein,
ich musste sie wegen ihrer Trinkerei ausschimpfen und weil sie Tonio anbrüllte —
«
»Sie hat getrunken?«
»Ja, ganz schlimm, seit diese Sache
passiert ist. Und Tonio ist noch ein kleiner Junge; er versteht es nicht, wenn
sie so ausrastet. Heute Morgen ist mir der Kragen geplatzt. Ich hab sie aus der
Wohnung geworfen und gesagt, sie soll wiederkommen, wenn sie ihr Leben auf die
Reihe gekriegt hat. Sonst würde ich sie wegen Kindesmisshandlung anzeigen und
das Sorgerecht beantragen. Darum ist sie allein im Dunkeln rumgelaufen. Es war
meine Schuld, und wenn sie jetzt stirbt — «
»Sophia, sie wird nicht sterben. Es war
nur Pech, dass sie zur falschen Zeit am falschen Ort war.«
Aber das glaube ich selbst nicht. Sie
war das Ziel, kein willkürliches Opfer.
Schlimm genug, dass Dominguez ihr und
mir etwas anhängen wollte. Doch damit war er zu weit gegangen.
Sophia schüttelte den Kopf. »Aber wenn
ich sie nicht rausgeworfen hätte, wäre sie bei uns zu Hause gewesen.«
»Nein, wäre sie nicht. Sie hat
Überstunden gemacht, weil es wichtige Fortschritte im Fall gab. Als sie
angeschossen wurde, war sie gerade auf dem Weg ins Miranda’s, wo wir zusammen
essen wollten.«
Sophia sah mich aus feuchten,
rotgeweinten Augen an. Ihre Wimperntusche war die Wangen hinuntergelaufen und
hatte sich in den Falten um ihren Mund gesammelt. »Aber sie hat nicht
aufgepasst, weil sie durcheinander war. Ich hab sie rausgeworfen. Wo sollte sie
denn schlafen?«
»Ich weiß, dass sie durcheinander war,
darüber wollten wir ja beim Essen reden. Ich hätte ihr angeboten, bei mir zu
übernachten.«
Sophia schüttelte den Kopf und sah auf
ihren Schoß hinunter. In diesem Moment erinnerte sie mich an Julia. Es war
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