Zu Grabe
oder übersehen hatte.
»Na ja, wenigstens hat er uns nicht viele Umstände beschert.« Kern wusch sich die Hände. »Kaum Geruchsbildung, schnelle Identifikation und einfache Feststellung von Todesart und -zeitpunkt.«
Du hast ja keine Ahnung, wie viele Umstände und Scherereien diese Leiche mir schon beschert hat, dachte Capelli still und kramte in ihrer Handtasche.
»Wonach suchen Sie denn?«
»Nach meinem Autoschlüssel. Ständig versteckt sich das dumme Ding vor mir. Ich habe extra einen riesigen Anhänger drangemacht, aber trotzdem kann ich ihn die meiste Zeit nicht finden.«
»Ist er vielleicht da drin?« Kern zeigte auf ihre Jackentasche, in der sich ein großes, unförmiges Etwas abzeichnete.
Capelli griff hinein und zog das gesuchte Objekt heraus.
»Cooler Anhänger«, stellte Kern fest. »Wo haben Sie den denn her?«
Die Gerichtsmedizinerin schluckte. »Von einem Freund«, sagte sie und wollte sich verabschieden.
»Ähm, Frau Capelli«, sagte Kern förmlich. »Sie sind ja noch ganz neu in der Stadt und kennen bestimmt noch nicht so viele Leute. Was halten Sie davon, mich am Freitagabend zu einer Party zu begleiten?
Capelli war zu geschafft, um eine tolle Ausrede aus dem Ärmel zu zaubern, und gab Kern widerstrebend ihre Telefonnummer. Das hatte ihr zu all dem vorherrschenden Ärger und Chaos gerade noch gefehlt – ein übereifriger Obduktionsassistent, der sie anmachen wollte.
»Aber der Wind blies lässig darüber hin
und kein Ton drang zur Oberfläche,
und sie saßen auf dem Grab, wartend und wartend.«
Charles Dickens, Schwere Zeiten
Morell stand klatschnass vor der schweren Eingangstür von Capellis Haus und fluchte leise vor sich hin.
Der Chefinspektor hatte sich direkt nach seinem Besuch im Archäologiezentrum auf den Weg in die Justizvollzugsanstalt gemacht, um Lorentz zu besuchen. Es hatte ihn zwar große Überwindung gekostet, in seinem beschwipsten Zustand ins Untersuchungsgefängnis zu fahren und dort den Beamten gegenüberzutreten, aber er hatte unbedingt sehen wollen, wie es seinem Freund ging, und außerdem gehofft, dass dieser etwas über das fehlende Foto wusste.
Um seine Fahne zu überdecken, hatte Morell eine Packung Fisherman’s Friends gekauft und sich vor dem Betreten des Grauen Hauses – wie die JVA Josefstadt auch genannt wurde – eine Handvoll davon in den Mund gesteckt. »Cheiche, chind die charf«, hatte er geflucht und sich an den Werbeslogan der Pastillen erinnert: Sind sie zu stark – bist du zu schwach. Er hatte sich eingestehen müssen, dass er wohl wirklich zu schwach war – zu schwach für Wien, zu schwach für Schnaps in aller Herrgottsfrühe und sogar zu schwach für ein paar einfache Pfefferminzbonbons.
Der Anflug von Selbstmitleid hatte sich beim Anblick von Lorentz relativ schnell wieder verflüchtigt. Der normalerweise so lebensfrohe und selbstbewusste Archäologe war die personifizierte Verzweiflung gewesen. Der Gefängnisalltag war hart – vor allem für jemanden wie ihn: einen intellektuellen Freigeist, der bisher noch nie mit dieser Art von Überwachung und Einschränkung in Berührung gekommen war.
Lorentz hatte dem Chefinspektor zwar leider nichts über das fehlende Foto, dafür aber ein paar Details über die Mordnacht erzählen können: Er war kurz nach Mitternacht in die Uni gefahren, hatte in Novaks Büro nach seinen Aufzeichnungen gesucht und sie, inklusive ein paar wichtiger Proben, die ihm schon seit Monaten abgingen, tatsächlich dort gefunden. Er hatte gerade alle seine Sachen in eine große Kiste gepackt, als er hörte, dass der Fahrstuhl betätigt wurde. Nervös hatte er daraufhin den Karton so leise wie möglich die Treppe hinuntergeschleppt – was ziemlich lange gedauert hatte – und anschließend das Gebäude verlassen, ohne jemanden gesehen oder gehört zu haben.
Auch wusste er einiges über das Opfer zu berichten: Novak war nicht unbedingt ein herausragender Wissenschaftler gewesen, hatte aber das, was ihm an Brillanz und Geist fehlte, durch Ehrgeiz und Vitamin B wettgemacht. An Ambition und Streben nach Ruhm war er kaum zu übertreffen gewesen und hatte sogar einen erheblichen Teil seines Privatvermögens in seine Forschungen gesteckt. Dass sich einige seiner Theorien im Laufe der Zeit als falsch herausgestellt hatten, wollte er nicht wahrhaben. Aber so war das nun einmal in der Archäologie: Jeder neue Fund war ein neues Puzzleteil, das das Bild der Vergangenheit wieder veränderte. Doch Novak hatte lieber
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