Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo
ermutigende Erinnerung. Irgendwo hatte ich auch gelesen, daß in dem Land zahlreiche Vulkane existieren, sehr hoch und zum Teil noch tätig. Oft brechen dort Erdbeben aus. Es wird wohl nicht ganz einfach sein, fürchtete ich, sich in diesem Erdstrich zurechtzufinden.
Die »Serpa Pinto« ließ sich von den Wellen hochheben und hinabsenken, am Nachthimmel über mir glitzerten unzählige Sterne, ich aber sah mich in einer Kakteenwüste, zwischen feuerspeienden Bergkolossen, glaubte das Schnauben galoppierender Pferde und die wilden Rufe wilder Männer zu vernehmen – ein Film, der bald Wirklichkeit werden sollte. Was blieb mir da übrig? Allmählich begann ich, mich auf dieses neue Abenteuer einzustellen. Viva Villa – das klang schließlich gar nicht so schlecht.
Vielleicht war es die nur allmählich ausklingende Gelbsucht, gepaart mit der ständigen Spannung, die mit jedem einzelnen der gehetzten Passagiere an Bord gestiegen war, vielleicht das Ergebnis der wiederholten Todesfälle unterwegs – wie eine neue Erfahrung beschlich mich unfaßbare Niedergeschlagenheit. Was ist denn los, stellte ich mich selbst zur Rede, du bist doch gerettet, stehst vor einem neuen Anfang.
Schon wieder? Wie oft kann man neu beginnen? Jenseits der unendlichen Wassermenge tobt ein Krieg. Wird es auch dort nach all dem Unglück eines Tages dennoch einen neuen Anfang geben? Werde ich dann dabeisein oder mich irgendwo in unerreichbarer Ferne vor Sehnsucht nach meinem natürlichen Zuhause, nach Prag und seinen Menschen und Straßen und Häusern, verzehren?
Das Meer rauschte und wogte, ließ sich vom dunklen Nachthimmel berühren, wußte vielleicht von meiner unausgesprochenen Bangigkeit, schenkte mir jedoch keinen Trost. War seine Weite und einschüchternde Fremdheit der Preis für mein Gerettetsein?
Mit einemmal glitt etwas Helles lautlos über das schwarze Firmament, flog davon, kehrte zurück, ließ sich ein wenig herab. Jetzt konnte ich es erkennen: eine Möwe. Ein Vogel vom Festland! Unaufhaltsam näherten wir uns dem neuen Kontinent.
Gischt spritzte hoch, salzige Tropfen prickelten auf meinen Wangen. Tränen oder ein Willkommensgruß des Meeres? Ich hielt mein Gesicht hin und ließ mir vom Ozean die Verzagtheit und Trauer fortwischen.
Meine erste klangvolle Adresse auf dem amerikanischen Kontinent lautete: México Ciudad, Avenida Nuevo León. Die Hausnummer habe ich inzwischen vergessen, daß es abermals ein Dachzimmer war, kam mir nun schon selbstverständlich vor. Das Haus, in dem ich einzog, war modern, in jedem Stockwerk gab es zwei bis drei komfortable Wohnungen, auf dem flachen Dach dann die Dienstbotenzimmer, aufgesetzt wie weiße Würfel. Je zwei mit einerDusche und Toilette. Die Emigranten aus aller Herren Länder, die für die Dauer des Krieges das großherzige Asylrecht der Vereinigten Staaten Mexikos genossen, hatten bald heraus, daß sich ihnen hier eine billige und selbständige Wohnmöglichkeit bot, und die Mieter in den einzelnen Stockwerken, zum Teil gleichfalls, allerdings schon länger im Lande ansässige Europäer, waren nicht abgeneigt, von diesen unverhofften Untermietern ein bescheidenes Nebeneinkommen zu kassieren – ein Arrangement zu beiderseitiger Zufriedenheit.
Als ich zum erstenmal das große Fenster in meinem kleinen Dachzimmer aufstieß, hielt bei mir ein Wunder der Welt in seiner ganzen Schönheit Einzug. Majestätisch erhaben, wie eingeschnitzt in einen tiefblauen Himmel, bot sich mir die Aussicht auf die beiden größten Vulkane dieses Erdstrichs, den Macho Popocatepetl und die Jungfrau Ixtaccihuatl, von ewigem Schnee bedeckt, scheinbar bewegungslos, obwohl es in ihrem Innern ständig brodelte. Wenn ich jedoch tief unter mich hinuntersah, verhüllten vier Palmenreihen den Betrieb in der breiten Straße, dämpften ihre Geräusche. All das war unwirklich schön und wirkte auf mich nach den elenden Monaten unterwegs wie ein kräftiger Schluck Wein.
Jemand lieh mir ein Bett, jemand anderer einen Schrankkoffer, der mir als Kleiderkasten diente; ein Tischchen, ein Stuhl, ein Kocher stellten sich gleichfalls ein. Das war alles, und mehr hätte auch nicht Platz gehabt. Im Nebenwürfel wohnten eine spanische Dichterin und zwei deutsche Emigrantinnen. Ein paar kurze Monate nur wohnte ich in der Nuevo León mit dem einzigartigen Ausblick. Dann trat in meinem Leben eine entscheidende Änderung ein. Eigentlich zwei.
Die eine bestand darin, daß ich nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen
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