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Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo

Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo

Titel: Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenka Reinerova
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mit in die Wohnung nehmen«, flüsterte mir Theo zu, »das geht einfach nicht. Dem älteren guckt übrigens ein Messer aus der Hosentasche.«
    Das hatte ich auch bemerkt. Dennoch sagte ich, weil ich mir auf der nächtlichen Straße keinen Rat wußte: »Aber sie sind doch noch Kinder. Wo werden sie schlafen?«
    Schließlich nahmen wir sie mit hinauf, gaben ihnen zu essen, machten ihnen aus Decken und Polstern vor unserer Wohnungstür ein Lager zurecht, entlockten ihnen jedoch außer einem gemurmelten »Gracias, Señora« auf alle unsere Fragen kein Wort.
    Ich konnte in jener Nacht kaum schlafen. Als ich früh aufstand und vorsichtig die Wohnungstür öffnete, waren die beiden nicht mehr da. Auch ein Kissen fehlte.
    Am nächsten Tag erzählte ich Kisch von dieser Begegnung, um mein Gewissen zu erleichtern, vor allem aber, um für eine mögliche ähnliche Lage einen Rat von ihm zu bekommen. Er ließ seine Brille auf die Nasenspitze rutschen, blickte mich fast liebevoll an und sagte:
    »Sei nicht so zimperlich. Du weißt doch, was hier nachts, und nicht nur nachts, auf der Straße los ist. Sei froh, daß nur ein Polster futsch ist und ihr beide in Ordnung seid. Casablanca hast du Gott sei Dank überlebt, also mach jetzt keine Dummheiten in Mexiko.«
    Die Avenida Industria war mir jedoch seither ein bißchen vergällt.
    Dann kam eine Nacht, in der ich aufwachte, weil ich ein unangenehmes Sausen im Kopf fühlte, Beklommenheit ... und in demselben Augenblick ratterte ein dutzendfacher Trommelwirbel in unserer Küche, in der nach mexikanischer Art an der Wand Haken für Töpfe, Pfannen und sonstiges Geschirr angebracht waren. All das krachte mit einemmal zu Boden, die Wände knisterten und schwankten.
    »Ein Erdbeben«, rief ich aus und schüttelte den schlafenden Balk.
    Er rappelte sich hoch und langte mechanisch nach den Pantoffeln. Sie segelten aber gerade ans andere Ende des Zimmers, und als er mich, immer noch schlaftrunken, verblüfft anschaute, kamen sie auch schon wieder zurück. Das Haus bebte wie auf hoher See.
    »Wir müssen auf die Straße.« Jäh war mein Mann hellwach.
    Die Treppe hob und senkte sich, war wie aus Gummi, gewährte den Füßen keinen Halt. Als wir endlich, es waren gewiß nur Sekunden oder Minuten, auf der Straße waren, herrschte ringsum tiefschwarze Nacht, weil das Elektrizitätswerk den Strom abgeschaltet hatte. In den Händen von auf dem Straßenpflaster knienden Indiofrauen flackerten Kerzen, Kinder weinten, und alle Tiere, Hunde, Katzen, Vögel, ein einsames Pferd, schrien vor Entsetzen. Baumkronen berührten den Boden. Häuser wankten, und im Inneren der Erde tief unter uns donnerte es. Wird sie bersten und uns alle verschlingen? In den Kirchtürmen gerieten die Glocken in Bewegung und schlugen dumpf an. Ich hatte in Mexiko schon einige Erdbeben überstanden, aber dieses,mitten in der Nacht, war besonders schauderhaft. Es gebar auch einen Vulkan.
    Kisch und Balk machten sich zwei Tage später auf den Weg, um die vulkanische Neugeburt in Augenschein zu nehmen. Ich blieb an meinem Schreibtisch auf der Gesandtschaft. Aber in der verläßlich ruhigen Avenida Industria wollte ich nicht mehr wohnen. Sie hatte keine Schuld an meinem Abenteuer mit den jungen Straßenvagabunden und schon gar nicht an dem Erlebnis des großen Erdbebens, hatte mich jedoch zweimal schonungslos fühlen lassen, daß ich hier fremd war. Das konnte ich ihr nicht vergessen und wollte weg aus dieser Straße. Wir zogen auch wirklich erneut um, fanden eine viel hübschere, keineswegs größere Wohnung in der nahen Calle Irapuato. Das kleine Haus, in dem wir uns vom ersten Tag an wohl fühlten, sollte unser letztes Zuhause in Mexiko sein.
    Du wunderst dich über diese Empfindlichkeit, Virginia, für dich ist die Straße dein wahres Zuhause. Aber darin besteht ja gerade der Unterschied. Mich und eine unübersehbare Menge von Menschen haben damals unerbittliche Umstände, die Frage, ob Leben oder Tod, zur Auswanderung gezwungen. Auch in deiner Umgebung leben Männer, Frauen und ihre Kinder, die das gleiche oder ähnliche Schicksal getroffen hat. Glaube mir, selbst wenn man sich im Exil zurechtfand und beinahe normal leben konnte, normal war es dennoch nie. Weil man entwurzelt war, fortgerissen vom Ort, den Menschen und der Vertrautheit seiner natürlichen Umwelt. Dieses Fortgerissensein war es, das einem auch in Augenblicken des Frohseins in der Fremde, unterdrückt und verwunschen, still auflauerte und den Menschen mit

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