Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo
vibrierende Atmosphäre in den übervölkerten Stadtvierteln, die Seltsamkeit der Natur, das fremdartige Gebaren der Menschen – all das hat sich dauerhaft in mir verankert, ist mit mir geblieben und erfreut und beglückt mich, wann immer ich mich daran erinnere.
Als in Deutschland Hitler mit seiner Millionengefolgschaft herrschte und dann auch noch der Krieg ausbrach, erfand jemand einen ironisch bitteren Witz: Join the Jews and see the world – Schließ dich den Juden an und lerne die Welt kennen. Wieder einmal waren diese Menschen auf der Flucht, nur zogen sie jetzt nicht durch die Wüste: um weiterleben zu können, mußten sie ihre Heimat in den meisten Ländern Europas verlassen, und die Glücklichen, denen das gelang, landeten oder strandeten auf fernen Kontinenten, in mehr oder minder exotischer Umwelt. Waren sie beneidens- oder bedauernswert? Wie etwa fand sich ein Lehrer aus Koblenz in Schanghai zurecht? Was konnte ein Professor und Doktor der Philosophie aus Wien mit seiner Wissenschaft in Honduras anfangen, ein Jurist aus Prag auf Curaçao? Es gab Menschen, deren Kraft dafür nicht ausreichte. Selbstmorde im Exil waren keine Ausnahme. Join the Jews and see the world – kein beneidenswertes, vielmehr ein hartes, bitteres Los.
Einmal wurde ich in Casablanca abends von einem Mannauf der Straße überfallen. Es war kein Araber, kein Einheimischer, es war ein französischer Kolonialoffizier. Ich wehrte und erwehrte mich, kam bloß mit einem gewaltigen Schrecken davon. Sonst waren meine Erfahrungen in der weißen Stadt viel besserer Art. Neben europäischen Emigranten, die – was verständlich war – ängstlich und vorsichtig vor neuen Bekanntschaften eher zurückschreckten oder sie im Gegenteil aus derselben Angst nahezu unerträglich übertrieben, lernte ich in Marokko einige junge Leute kennen, die eine andere Hautfarbe hatten als ich, ganz anders gekleidet waren und denen wiederum ich leicht exotisch erschien. Dennoch verstanden wir einander ganz gut. Bei unseren regelmäßigen Zusammenkünften in einem winzigen maurischen Café (ein ungarischer Fotograf und ich waren die einzigen Europäer) empörten wir uns und schimpften einmütig über die gleichen Zustände auf der Welt und lachten gern und oft über dieselben Dinge und Menschen. So durcheinandergewürfelt lebte man damals, lebte ich gestrandet in Casablanca.
Kennst du das, Virginia, eine lose Gemeinschaft, die einem jedoch einen festen Rückhalt bietet? Das Miteinander von jungen Menschen? Es gab doch gerade auf der Southbank, wo du deinen Sitz hast, eine sonderbare Siedlung aus Pappkartonbehausungen. Einmal fand dort sogar eine kleine Ausstellung von Bildern statt, deren Maler zu den Bewohnern dieser einzigartigen Obdachlosenkolonie zählten. Inzwischen wurde sie geräumt. Wohin haben sich die jungen Leute zerstreut? Bist du eine von ihnen, Virginia?
Meine Hepatitis war noch nicht ganz ausgeheilt, meine Augäpfel schimmerten noch ein wenig gelblich, als ein Wunder geschah. Aus Portugal traf in Casablanca ein Schiff mit dem schönen Namen »Serpa Pinto« (Rosa Schlange) ein, auf dem ein Platz für mich gebucht war. Ich konnte aus meinem Lichtschacht ausziehen und von neuem die Reise über den Atlantik antreten. Mein Ziel war nach wie vorMexiko, und diesmal sollte ich es sogar erreichen. Aber vorerst mußte ich die Schiffsfahrt überstehen, vier Wochen auf hoher See. Ich schlief eingekeilt zwischen vielen Menschen auf dem Deck, stand Schlange vor dem Waschraum und der Essenausgabe, war den ständig aufkommenden Gerüchten ausgesetzt, konnte keine Minute allein sein, außer wenn es mir ganz früh oder spätabends gelang, in der Spitze des Schiffes oder an seinem Ende einen Platz an der Reling zu erwischen. Dort guckte ich dann Löcher in die Welt.
Nichts als Wasser und Himmel. Meistens war das Meer ruhig, klatschte friedlich an die Schiffswand, aber manchmal tobte es wild gegen sie an. In dieser Weite, in der unfaßbaren Unendlichkeit, die keinen Anhaltspunkt bot, in der nur ab und zu ein Delphin aus den Wellen sprang und schnell wieder untertauchte, versuchte ich mir meine nächste Zukunft auszumalen. Was wußte ich von Mexiko? Noch in Prag hatte ich den Film »Viva Villa« mit dem bärenhaften Wallace Beary in der Hauptrolle gesehen. Alle Männer in dem Streifen hatten riesige Strohhüte auf dem Kopf, alle, die guten und die bösen, schossen unentwegt und ritten zwischen stachligen Kakteen oder trabten durch elende Dörfer. Keine sehr
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