Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo
Schreibtisch?
Alles falsch. Mein Hausengel steckt in mir, ist mein Unruhegeist und der geduldige Zubringer guten Mutes. Auch in Lagen, die weder banal und schon gar nicht hoffnungsvoll sind.
Einmal licht, einmal dunkel. Wie schön wäre es, wenn es dafür ein Gleichgewicht gäbe!
Bei solchen Überlegungen kommen mir in letzter Zeit immer wieder Begebenheiten in den Sinn, die ich vor Jahren festgehalten habe, wahrscheinlich noch ohne das Beisein eines Hausengels oder ohne zu verstehen, daß es in uns so etwas gibt. Sie kommen stets von neuem in mir auf, weil sie Wendepunkte im Leben beinhalten, die nicht von außen, sondern mit Hilfe anderer Menschen aus ihrer inneren Tiefe entstanden sind. Also doch unter Mitwirkung von Hausengeln? Einer dieser Geschichten gab ich den Titel:
Die Schiffskarte
Draußen pfiff der Wind. Die Uhr auf dem Turm der nahen Kirche schlug siebenmal an. Ein neuer Tag begann. Aber der Mann in dem häßlichen Zimmer hatte keine Lust, die Augen zu öffnen. Er würde ja doch nur das angeschlagene Waschbecken mit dem gelblichen Boden sehen, den wackligen Schrank, der nur mit Hilfe einer Schnur zu schließen war, den Tisch mit den widerwärtigen Resten des gestrigen Abendbrotes, die unordentlich verstreuten Kleidungsstücke und den Koffer aus längst vergangenen Zeiten. Grand Hotel Pupp, Karlsbad, La belle Marquise, Bruxelles. Wahrlich, hier gab es keine belle, hier gab es überhaupt nichts Schönes zu sehen. Keine Marquise, keine Kurpromenade, nur die blaue Tapete mit den dicken roten Rosen ringsum.
Aufstehen oder nicht aufstehen, das ist die Frage.
Der Mann in dem häßlichen Zimmer wickelte sich noch etwas fester in die dünne Decke. Er versuchte jedoch nicht mehr einzuschlafen, kannte er doch solche vergeblichen Bemühungen nur allzugut. An diesem Morgen flackerte zudem ganz überraschend eine wärmende Erinnerung in ihm auf. Was war das nur gestern?
Unten am Meer ging die Sonne auf. Auch hinter seinen geschlossenen Augenlidern fühlte der Mann, wie sich das Rechteck des Fensters erhellte. Zwei Sonnenstrahlen werden jetzt auf den Fußboden fallen, auf der blauen Tapete über die dicken Rosen streichen, auf dem Rand des Wasserglases entlanglaufen und dann zu ihm herüberspringen. Zuerst auf die Messingkugel am Bettrand zu seinen Füßen, dann werden sie vorsichtig bis zu seinem unrasierten Kinn heraufklettern.
Er streckte sich. Was bleibt einem übrig, aufstehen muß man, auch wenn das Leben noch so unerfreulich ist. Aufstehen, um sich von neuem in das sinnlose Karussell der Marseiller Hysterie am Ende des Jahres 1941 zu stürzen.
»Verzeihen Sie, ich bin Dr. Michal Racek aus Brünn. Ich besitze ein Visum für die USA. Man hat mir dort auch eine Schiffskarte gekauft. Ist sie bereits eingetroffen?«
»Ich sagte Ihnen doch schon gestern, für Sie ist noch nichts da. Es ist ganz überflüssig, daß Sie jeden Tag vorbeikommen.«
»Verzeihen Sie, ich bin Dr. Michal Racek aus Brünn. Ich besitze ein Visum für die USA, aber meine Schiffskarte ist noch nicht bei der American Express Company eingetroffen. Deshalb sehe ich mich gezwungen, Sie nochmals um eine gewisse Unterstützung anzusuchen.«
»Schon wieder, Herr Doktor? Das wird nicht einfach sein. Sie müssen verstehen, daß Sie leider nicht der einzige Tschechoslowake sind, den wir unterstützen müssen.«
»Verzeihen Sie, ich bin Dr. Michal Racek aus Brünn. Ich habe ein Visum für die USA, aber meine Schiffskarte ist noch nicht eingetroffen. Das Tschechoslowakische Hilfszentrum hat mir deshalb eine finanzielle Unterstützung gewährt. Könnten Sie mir freundlicherweise die Aufenthaltsbewilligung noch um einige Tage verlängern?«
»Sehen Sie zu, so bald als möglich von hier fortzukommen. Andernfalls wären wir leider gezwungen, Ihnen einen Aufenthaltsort außerhalb von Marseille zuzuweisen.«
»Verzeihen Sie, ich bin Dr. Michal Racek aus Brünn ... Verzeihen Sie, daß ich überhaupt auf der Welt bin ... Verzeihen Sie ...«
Und wozu das alles? Wem liegt denn daran, ob ein gewisser Dr. Michal Racek aus Brünn, einst ein perspektiver Internist, Spezialist für Magenerkrankungen, überhaupt existiert? Wozu all die Mühe? Gewiß, er will nach Amerika auswandern, weil er es in der besetzten Heimat nicht aushalten konnte und weil ihn auch in Frankreich die braune Flut einholte, derentwegen er Brünn verlassen hat. SeinBruder hat ihm ein Visum beschafft, sein Bruder zahlt auch die Überfahrt, und die Schwägerin verübelt ihm das
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