Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo
sich stets von neuem abfertigen, hinauswerfen und im besten Fall auf einen unbestimmten anderen Tag vertrösten.
Als er auf die Straße trat, schlug ihm derselbe üble Geruch entgegen wie jeden Morgen. Am Rande des Gehsteigs hockte ein rostbrauner Kater mit einem weißen Ohr. Vielleicht fischte er hier wie die Katze, nach der eine Pariser Gasse benannt war. Als sich ihm Dr. Racek näherte, sprang er auf und lief ihm lautlos entgegen. Michal bückte sich, um ihn zu streicheln. Kaum berührte seine Hand den warmen, seidenweichen Rücken des Tieres, fiel ihm plötzlich ganz deutlich ein, was gestern gewesen war.
Eine fröstelnd zusammengekauerte Mädchengestalt. Ein schäbiger brauner Mantel und braune Halbschuhe mit abgetretenen flachen Absätzen. Eine der kläglichen Erscheinungen, denen man in Marseille so häufig begegnen konnte. Aber dieses Mädchen hatte etwas Besonderes, fast Aufrührerisches an sich. So stand sonst niemand in dem dunklen Vorzimmer des Tschechoslowakischen Hilfszentrums. Hier duckten sich die Menschen unwillkürlich, als ob sie das schlechte Gewissen plagte, im nächsten Augenblick belästigen, drängen, auf die Nerven gehen zu müssen.
Nur diese eine stand ruhig da, sogar mit erhobenem Kopf.
Dr. Racek kam hinter den aufrechten Mädchenrücken im braunen Mantel zu stehen und konnte seine Augennicht von ihm abwenden. Vielleicht spürte es das Mädchen. Auf einmal drehte es sich heftig um. Graue Augen in einem schmalen Gesicht. Ein zuerst ablehnender, beinahe ärgerlicher Blick. Doch mit einemmal wich die Härte, und die kleine Person betrachtete ihn eher forschend. Dann blitzte es in den grauen Augen auf, als ob sie in dem düsteren Wartezimmer einen Lichtstrahl aufgefangen hätten. Sie lachten ihn sogar an, und der breite weiche Mund half ihnen dabei.
In diesem Augenblick drang wirklich ein Streifen Licht in den Raum. Der Zahnarzt des Hilfszentrums hatte die Tür seiner Ordination geöffnet: »Der nächste, bitte!« Das Mädchen im braunen Mantel schritt schnell aus. In der Tür wandte es sich um: »Auf Wiedersehen!«
Das war alles. Aber Dr. Michal Racek konnte es nicht vergessen. Nach langen Monaten starrköpfiger Einsamkeit sah er heute zum erstenmal die Menschen auf der Straße. Verblüfft stellte er fest, daß junge Mädchen unbekümmert lachten, daß in Kinderwagen winzige, vielleicht eben erst geborene Geschöpfe sorglos schlummerten, daß in den Cafés Menschen saßen, die sich immer noch einen vormittäglichen Aperitif leisten konnten. Immer noch, durchaus wie immer.
Das alles sah er und sah es zugleich auch nicht. Seine Augen glitten ungeduldig über die Reihen der runden Tischchen und geflochtenen Stühle auf den Gehsteigen vor den Cafés und zwängten sich erwartungsvoll in das dichte Gedränge der Menschen auf den Straßen. Sie übersahen die spähenden Blicke der Polizeispitzel, die überall in der übervölkerten Stadt umherstrichen, wichen gereizt jeder Uniform aus, überflogen mechanisch die Schlagzeilen auf den ersten Seiten der feilgebotenen Zeitungen und suchten, suchten.
Die Büros der Schiffahrtsgesellschaft befanden sich auf der Cannebière, der Hauptstraße von Marseille, an ihrem unteren Ende, von wo aus schon das Meer zu sehen war. Allerdings nur ein schmutziger Zipfel davon, der von der hohen Eisenkonstruktion des Frachtentransporteurs unddem ganzen geräuschvollen alten Hafenviertel zusammengeschnürt wurde. Aber nur ein kleines Stück weiter draußen umspülten die Meereswellen bereits die felsige Insel Château d’If, wo einst der Graf von Monte Christo gefangen war. Und noch etwas weiter war die See bereits ganz ungefesselt und frei. Heute bleigrau und unheilvoll, morgen vielleicht schon wieder blau, als ob der Himmel der Erde zu Füßen gefallen wäre.
Ein Emigrantenfrühstück setzte sich manchmal aus einer Tasse tintenschwarzen Ersatzkaffees und einer Scheibe grauen Brotes zusammen. Manchmal nur aus diesem Stück Brot und ein andermal wieder nur aus dem heißen Getränk. Dr. Racek vergönnte sich an diesem Morgen beides. Er hatte das völlig unbegründete Gefühl, daß ein ganz ungewöhnlicher Tag angebrochen war, und versuchte, diese Vorahnung in das konkrete Gewand konkreter Möglichkeiten zu kleiden. Ganz sicher liegt im Hilfszentrum ein Brief für ihn. Er belastete sich nicht mit der Erwägung, wer ihm plötzlich geschrieben haben sollte. Es ist nicht ausgeschlossen, daß dort ein Brief für ihn liegt, das genügt. Oder man wird ihm auf einmal die
Weitere Kostenlose Bücher