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Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo

Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo

Titel: Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenka Reinerova
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wahrscheinlich, weil sie natürlich annimmt, daß er ihnen das Geld niemals zurückerstatten wird. Von Martha hat er sich schon längst getrennt, das ist endgültig vorbei. Warum also, warum zum Teufel, liegt ihm so daran, aus Europa wegzukommen, sich nicht vom Krieg zerstampfen zu lassen?
    Im Nebenzimmer plätscherte Wasser. Er hörte zwei bekannte Stimmen. Eine männliche und eine etwas verschreckte weibliche. Was sie einander sagten, konnte er nicht verstehen, wußte aber auch so, worüber sie sprachen. Der Mann war ein jüdischer Schauspieler aus Deutschland, seine Frau stand früher einmal gleichfalls auf der Bühne. Auch sie besaßen Visa für die USA und warteten auf das Eintreffen ihrer Schiffskarten. Inzwischen war der Mann in Les Milles interniert, einer Ziegelei in der Nähe von Marseille, und seine Frau im Hotel Bompard, das aber kein Hotel, sondern ein Interimsgefängnis der Polizeipräfektur für Ausländerinnen war. Ab und zu gestattete man dem Ehepaar großzügig, eine Nacht gemeinsam zu verbringen. Dann wurden die beiden für einige Stunden die Nachbarn Raceks. Jedesmal tröstete der Mann am Morgen seine verzagte Frau, daß es so nicht mehr lange dauern würde, daß sie wieder zusammen leben, daß sie gemeinsam ein neues Leben beginnen würden.
    Einige Wochen lang kannte Michal Racek nur ihre Stimmen aus dem Nebenzimmer, bis er ihnen eines Tages im Korridor des Hotels begegnete: dem unansehnlichen mageren Mann und der zarten Frau. Ein älteres Ehepaar. Man stellte sich gegenseitig vor, und seither wechselten sie bei jeder Begegnung stets ein paar Worte. Vielleicht waren auch diese beiden Menschen mit ihrer Hoffnung schuld daran, daß er bis zum Verrücktwerden um seine Schiffskarte kämpfte. Nur weg von hier, je weiter, desto besser. Neu beginnen, ganz neu und vom Anfang an ...
    Endlich öffnete er die Augen. Und wieder: Was war gestern eigentlich vorgefallen? Was wärmte ihn bis jetzt, beinahewie die Erinnerung an einen unerwarteten Glücksfall. In Marseille und in diesen Tagen?
    Er sprang aus dem Bett und lief zum Fenster. Draußen war es kalt, deshalb schloß er es schnell wieder. Aus dem Spiegel über dem angeschlagenen Waschbecken blickte ihn das unrasierte Gesicht eines Mannes an, weder alt noch jung, eines Menschen, der schon lange nicht gelacht hat und in dessen Augen sich tiefgehende Erlebnisse widerspiegelten.
    Da hatte es einen verregneten Morgen gegeben, und am Eingang zur Fakultät standen Männer in den Braunhemden der SA. Hinter ihnen war eine leere Pförtnerloge und ein leerer Korridor mit einem Anschlag auf dem schwarzen Brett, den niemand mehr las.
    Dann folgten einsame Wochen in Paris. Er mied alle Menschen. Die Emigrationsgeschäftigkeit war ihm zuwider. Manchmal hätte er vor Einsamkeit schreien können; die fremde Stadt verwirrte ihn, und er wußte nicht ein noch aus.
    Ein Brief aus Brünn teilte ihm mit, daß neben anderen Universitätsprofessoren auch sein Vater verhaftet wurde. Kurz darauf traf eine Postkarte mit der Nachricht ein, daß seine Mutter diesen Schlag nicht überlebt hat. Und dann nichts mehr. Brünn hörte auf, der Ort zu sein, in dem er studierte, wo er Martha hatte, die Stadt, in der er seinen »ersten Magen« operierte. Brünn war nur mehr eine nähere Bezeichnung in Zeitungsnachrichten: »Im Kounic-Studentenheim in Brünn ... Inhaftiert auf dem Brünner Spielberg ...«
    Der Krieg brach aus – und er war allein. Es gab Nächte ohne Licht in einer fremden Stadt und in Kellern fremder Häuser. »Melden Sie sich bei der Polizei!« – »Ich bin Dr. Michal Racek aus Brünn ...« – »Warum sind Sie noch nicht in der Armee?« – »Ich wollte ...«
    Damals hat es begonnen.
    Was wollte er eigentlich? Warum ist er aus Paris geflohen, warum hat er sich in den Gräben der Landstraßen versteckt, als Flieger der Wehrmacht das Bombardieren lebendigerZiele übten? Warum konnte er, ein Arzt, die Erinnerung an jene Frau in der Nähe von Bordeaux nicht loswerden, die vielleicht einmal schön war und jetzt – er mußte immer wieder daran denken.
    Schließlich landete er in Marseille. Hier konnte er den Menschen nicht mehr ausweichen. Er stand unter ihnen Schlange vor dem Konsulat, vor der Polizeipräfektur, vor der Schiffahrtsgesellschaft, überall. Er war fremd unter ihnen und doch genauso wie sie; von Angst besessen, in eine Falle geraten zu sein.
    Nur weg von hier. Deshalb rasierte und wusch er sich, zog sich an, frühstückte, aß mittags und abends. Deshalb ließ er

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