Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo
Unterstützung für die nächsten vier Wochen auszahlen und dabei sagen: »So, Herr Doktor, jetzt haben Sie einen Monat Ruhe. Sollten Sie früher abreisen, rechnen Sie bitte bei uns ab!« Es kann jedoch auch etwas ganz anderes geschehen. Er wird das Büro der Schiffahrtsgesellschaft betreten und geradezu herzlich begrüßt werden: »Gut, daß Sie kommen, Herr Doktor. Wir haben für Sie schon alles vorbereitet, seien Sie nur so freundlich, und bestätigen Sie uns hier den Empfang des Tickets. Sie fahren am nächsten Mittwoch, stellen Sie sich bitte rechtzeitig im Hafen ein.«
Wohin sollte er sich an diesem außergewöhnlichen Morgen zuerst wenden? Er entschied sich für das Wichtigste und steuerte auf die Schiffahrtsgesellschaft zu.
Dort fand er heute eine verhältnismäßig kurze Menschenschlange vor. Der übliche Anblick: abgemagerte Männer, denen es gelungen war, unter dem Vorwand einer Ausreisemöglichkeitaus einem der französischen Internierungslager zu entkommen; jüdische Familien mit Kindern, die unablässig von ihren verschüchterten Eltern ermahnt wurden: »Sei still! Steh ordentlich! Du darfst den Herrn nicht anrempeln! Setzt euch schön in die Ecke!«
Als ob sie nicht schon in zu vielen Ecken gesessen hätten. Zuerst in Viehwagen, dann in dunklen Lagerbaracken und schließlich hier in den Nachtasylen und billigen schmutzigen Hotelzimmern des ersehnten Marseille. Vielleicht gab es unter ihnen den begabtesten Violinvirtuosen der Welt, vielleicht den künftigen Entdecker eines Heilmittels gegen Krebserkrankungen, vielleicht Filmschauspielerinnen von bezwingender Schönheit oder einfach Ehefrauen und Mütter mit goldenem Herzen. Es war ihnen nicht anzusehen, und niemand zerbrach sich darüber den Kopf. Sie waren jüdische Kinder, und in Marseille sagte man ihnen: »Seid froh, daß ihr nicht im Reich seid!« Und darum mußten sie still sein und dankbar und geduldig.
Dr. Racek reihte sich unter die Wartenden ein und versuchte abzuschätzen, wie lange er hier stehen würde, ehe die Reihe an ihn kam. Vor ihm waren zwei Männer, zwei Familien – das dauerte länger –, eine alte Frau, verlassen wie er, und etliche Spanienflüchtlinge. Das war anscheinend alles; vielleicht noch das Mädchen am Tisch in der Ecke.
Da durchzuckte es ihn wie ein elektrischer Schlag. Das gibt es nicht! Und doch. Dort in der Ecke stand das Mädchen im braunen Mantel.
Die Menschenschlange rückte ziemlich schnell vorwärts. Ein prüfender Blick des Fräuleins von der Schiffahrtsgesellschaft in die Verzeichnisse auf dem Pult vor ihm und ein kurzes: »Noch nichts. Der nächste, bitte!« nahm nicht viel Zeit in Anspruch.
»Der nächste, bitte! Treten Sie unaufgefordert vor!« Und im Rücken ein vorwurfsvolles: »Mensch, halten Sie uns nicht auf! Wir wollen auch an die Reihe kommen!«
»Dr. Michal Racek, Tschechoslowakei.«
»Raban, Rabinowitsch, Rádl. Noch nichts. Der nächste, bitte!«
Das Mädchen in der Ecke hatte sich inzwischen auf einen Stuhl fallen lassen. Was machte es dort? Auf wen wartete es?
»Guten Tag, Fräulein. Erkennen Sie Ihren Landsmann wieder?«
Sie blickte hoch, zögerte einen Augenblick, dann lachte sie ihn an. »Aber natürlich! Was haben Sie erreicht? Ist Ihre Schiffskarte angekommen?«
»Vorläufig noch nicht. Und Sie?«
»Ich?« Sie schüttelte den Kopf. »Auch noch nichts.«
»Und müssen Sie hier noch warten?«
An sich hatte er etwas ganz anderes sagen wollen. Eigentlich wollte er überhaupt nichts mehr sagen, und dabei brachte er nun dieses alberne Zeug hervor. Das Mädchen stand auf.
»Ich habe ein wenig in den Zeitschriften hier geblättert. Aber jetzt muß ich schon gehen. Auf Wiedersehen.«
Sie schritt eilig zur Tür. Diesmal wandte sie sich nicht um.
Drei Tage später begegnete er ihr von neuem. Sie wartete an der Endstation vor dem Theater auf die Straßenbahn. Weil es regnete, hatte sie den Mantelkragen hochgeschlagen. So sah sie ganz klein aus.
»Guten Tag«, sagte er leise und stellte sich neben sie.
Sie drehte sich um. Ihr Gesicht war naß. Sie erkannte ihn, das stand außer Zweifel, aber sie lachte ihn nicht an.
»Sie? Schon wieder?«
Es regnete. Alles war häßlich und grau.
»Wünschen Sie etwas?«
»Ich? Nein, wieso? Verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht belästigen.«
Er machte kehrt und ging. Ein außergewöhnlicher Morgen ... Lächerlich! Es gab keine außergewöhnlichen Morgen. Es gab überhaupt nichts auf der Welt außer Regen und der Sinnlosigkeit des
Weitere Kostenlose Bücher