Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo
Lebens.
Verzeihen Sie, ich bin Dr. Michal Racek aus der Tschechoslowakei ... Auf dem Gehsteig war eine große Pfütze. Er wich ihr nicht aus. Warum auch?
»So. Jetzt habe ich auch noch nasse Füße. Besitzen Sie viele Schuhe, daß Sie mit ihnen so schonungslos umgehen können?«
Warum hatte sie die Haltestelle verlassen? Warum ging sie im Regen neben ihm?
»Hören Sie, ich wollte Sie nicht beleidigen. Sie haben mich ein bißchen überrascht, das ist alles. In dieser Stadt muß man vorsichtig sein. Aber wenn wir uns schon kennen, ich meine, wenn wir überall übereinander stolpern, muß es immer in einem Wartezimmer oder auf der Straße sein? Ich bin bis auf die Haut durchnäßt. Wollen wir nicht irgendwo etwas Warmes zu uns nehmen?«
»Ich möchte nicht, daß Sie ...«
»Lassen Sie das. In Marseille muß man auf seiner Hut sein, das wissen Sie wohl auch.«
Sie bogen um die Ecke und betraten ein kleines Café, in dem nur vier Tische standen. Er half ihr aus dem Mantel. Sie trug einen einfachen grauen Pullover, der für sie ein wenig zu groß war. Vielleicht war es ein Herrensweater. Er setzte sich ihr gegenüber und war so verwirrt, daß er kein Wort herausbrachte. Darum bestellte auch sie, als die Kellnerin an ihren Tisch kam:
»Zweimal Kaffee und Zwieback.«
»Zwieback?« stieß er erschrocken hervor. »Das geht nicht. Ich habe keine Brotmarken.«
»Macht nichts, Zwieback ist ›ohne‹ und hier sogar mit etwas Marmelade. Auch ›ohne‹. Ich kenne dieses Lokal.«
Eine Weile schwiegen sie beide. Das Mädchen betrachtete ihn mit seinen großen grauen Augen. In dem kleinen Café war es warm und still. Nur bei der glänzenden Espressomaschine stand ein Mann und unterhielt sich mit der jungen Kellnerin, die auf einem winzigen Kocher Wasser aufgestellt hatte. Wenn man doch ewig so dasitzen könnte!
»Verzeihen Sie«, sagte er plötzlich, »Dr. Michal Racek aus Brünn.«
»Freut mich sehr.« Ohne ihren Namen zu nennen, reichte sie ihm über den Tisch die Hand. »Sie sagen das, als würden Sie sich zu einer Sünde bekennen. Wahrscheinlich warten Sie hier, wie jeder in Marseille, auf Ihre Ausreise. Was ist Ihr Ziel, Herr Doktor?«
»Brünn. Das ist aber leider ausgeschlossen, und deshalb ist mir alles andere egal. Auch die USA. Und Sie?«
Er brachte es nicht fertig, sie mit »Fräulein« anzureden. Zu diesem Mädchen paßte das nicht recht. Sie war kein Fräulein, sie war ...
Michal Racek steckte sich mit zitternden Händen eine Zigarette an.
»Ich? Im Moment sieht es nach Lateinamerika aus. Ich habe aber keine besondere Lust dazu.«
Sie blickte auf seine unruhigen Hände und fügte fast mütterlich hinzu: »Und wie leben Sie hier? Sind Sie in Les Milles?«
»Ich bin in keinem Lager. Ich war überhaupt nicht interniert.«
Und dann zerbrach in ihm eine Barriere. Monatelang hatte er Menschen gescheut und war ihnen ausgewichen. Es hatte Augenblicke gegeben, da er sich auf den bombardierten Landstraßen im kopflosen Strom der Pariser Flüchtlinge absichtlich nicht deckte, weil er sterben wollte. Und nicht einmal das war ihm gelungen. Es hatte Tage gegeben, da er vom Morgen bis zum Abend und nochmals vom Morgen bis zum Abend mit niemandem ein einziges Wort gewechselt hatte. Noch schlimmer waren die Nächte, schwarze Schlünde der Verzweiflung, an deren Ende nur die Sackgasse eines weiteren sinnlosen Tages wartete.
Sie hörte ihm aufmerksam zu. Manchmal dachte er, sie werde ihn unterbrechen, aber das kam ihm wohl nur so vor. Als er endlich verstummte, sagte sie vorerst nichts. Erst nach einer Weile fragte sie:
»Warum erzählen Sie mir das alles? Warum gerade mir, Sie kennen mich doch gar nicht.«
»Warum? Weil Sie irgendwie anders sind, einem Menschen wie Sie bin ich in Marseille noch nicht begegnet.«
Sie strich eine widerspenstige Haarsträhne glatt und lachte in sein ratloses Gesicht.
»Nein? Na, vielleicht wirklich nicht.«
Über sich erzählte sie kaum etwas; nur daß sie einige Male verhaftet war und jetzt in Marseille lebte. Er erfuhr weder wo, noch mit wem. Sie sagte bloß: »... wir schlagen uns irgendwie durch« oder »... wenn man nicht allein ist, ist alles viel leichter«. Er wagte nicht zu fragen, was sie damit andeuten wollte, hatte eine unbestimmte Angst vor ihrer Antwort.
»Sie sollten etwas tun, Herr Doktor«, meinte sie abschließend. »Wenn ich so leben würde wie Sie, könnte ich es auch nicht aushalten.«
»Etwas tun?« Er starrte sie verblüfft an. »Hier und in dieser Lage?
Weitere Kostenlose Bücher