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Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo

Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo

Titel: Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenka Reinerova
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Was, um Himmels willen?«
    Sie spielte mit dünnen, leicht gebräunten Fingern mit der Wachsleinwand, die den Tisch bedeckte. Dr. Racek überkam das Bedürfnis, die zarte und zugleich feste Hand anzufassen, sich an ihr festzuhalten. Aber er beherrschte sich. Auf keinen Fall wollte er das Mädchen erschrecken, wollte nichts verderben.
    »Es hat aufgehört zu regnen«, bemerkte sie nach einem Blick aus dem Fenster, »höchste Zeit, daß ich gehe.«
    Vor dem Café wollte sie sich von ihm verabschieden. »Ich wünsche Ihnen alles Gute und baldige Abfahrt, falls wir einander nicht mehr begegnen sollten.«
    »Das kann doch nicht Ihr Ernst sein«, stieß er erschrocken hervor und faßte nun doch nach ihrer Hand. Sie fühlte, daß er zitterte. »Nur manchmal«, bat er, »nur wenn Sie wirklich nichts anderes zu tun haben. Ich werde ja ohnehin bald abfahren, gerade heute hat man mir angekündigt, daß meine Schiffskarte bereits jeden Tag da sein muß.«
    Das war gelogen, weil er verhüten wollte, daß sie ihn in seine unerträgliche Einsamkeit zurückverbannte.
    Er war außer sich vor Erregung, und so bemerkte er nicht, wie sich ihre Augen aus Mitgefühl verdunkelten.
    »Also gut«, sagte sie weich, »vielleicht könnten wir ab und zu für eine Weile zusammenkommen. Sagen wir hier, bei Zwieback.«
    Er holte tief Atem. Die Häuser in der Straße nahmen erneut ihre festen Umrisse an, der Wind war vom salzigen Duft des nahen Meeres durchtränkt, auf dem gegenüberliegenden Gehsteig küßte ein Mann ein Mädchen in buntem Kopftuch.
    »Sie haben mir noch nicht gesagt, wie Sie heißen.«
    »Wirklich? Entschuldigen Sie, Herr Doktor ...«
    »Michal. Ich bin Michal Racek aus Brünn.«
    »Also gut, Michal. Mich nennt man Darinka.«
    Der Mensch braucht eigentlich nicht viel. Doktor Racek hatte auch weiterhin nur 220 Gramm oder zwei Scheiben Brot pro Tag, wohnte auch weiterhin in dem häßlichen Hotelzimmer mit dem fleckigen Spiegel und den dicken Rosen an der Wand, auch weiterhin vertröstete man ihn im Büro der Schiffahrtsgesellschaft und fertigte ihn gleichgültig im Tschechoslowakischen Hilfszentrum ab. Er wurde sogar zur Polizeipräfektur vorgeladen, wo ihn ein Beamter höflich, aber sehr eindeutig darauf aufmerksam machte, er müsse bis zum Monatsende abfahren, da andernfalls eine Internierung in Les Milles leider nicht zu umgehen wäre.
    Als er die Präfektur verließ, wußte er jedoch, daß er in dem kleinen Café Darinka treffen werde, daß er ihr alles erzählen und sie ihn in ihrer beinahe heiteren Art beruhigen würde: »Nehmen Sie das nicht so tragisch, Michal, irgendwie werden Sie sich schon aus der Patsche ziehen. Ihre Schiffskarte muß doch jeden Tag eintreffen.«
    Das stimmte. Das Ticket konnte wirklich schon jeden Tag da sein, wie ihm der Bruder in seinem letzten Brief versichert hatte. Dann wird sich die Lage von Grund auf ändern.Das Bitten und Beschwören wird aufhören, und falls bis dahin Darinkas Papiere aus Lateinamerika noch nicht da sein würden ...
    »Darüber zerbrechen Sie sich nicht den Kopf«, hatte sie ihn ein wenig ungeduldig abgewiesen, als er einmal vorsichtig das Gespräch darauf lenkte, »ich gehe nicht verloren, weder hier noch dort.«
    Diese Worte hatten etwas für sich. Es schien ihm geradezu unwahrscheinlich, wie sich dieses zarte Mädchen im Dschungel von Marseille zu bewegen verstand. Einmal, als sie miteinander auf der Straße gingen, wurde er beinahe ohnmächtig, weil ihm trotz aller Vorsicht die Lebensmittelmarken ausgegangen waren, so daß er schon den dritten Tag nur von einer Art Traubenzucker lebte, der frei verkauft wurde, mit Trauben kaum etwas gemein hatte und weder süß noch nahrhaft war. Hellbraune Würfel einer klebrigen Masse, welche die Zähne blau färbten. Zögernd, fast beschämt, gestand er das dem Mädchen. Darinka wurde böse. Warum hatte er ihr nichts gesagt? Hatte sie ihn nicht in das Café eingeführt, in dem es Zwieback mit Marmelade gab? Warum war er nicht hingegangen? Was sollten solche unsinnigen Trotzgesten? Übrigens kannte sie auch ein Gasthaus, in dem es ganz gute Fische ohne Marken gab. Einmal machte sie ihn auf eine Lieferung Zwiebeln auf dem Markt, ein andermal auf algerische Feigen in einem Laden im alten Hafenviertel aufmerksam.
    »Wie machen Sie das, Darinka? Sie leben in dieser gräßlichen Stadt, als ob Sie hier zu Hause wären. Dabei hat doch nur eine einzige Sache Sinn: von hier fortzukommen. Alles andere ist Unsinn und Selbstbetrug.«
    »So? Soll man

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