Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo
vor Hunger vergehen, freiwillig auf alles verzichten und sich am Ende auch noch einsperren lassen? Nur warten und zusehen, wie die Nazis wüten und wie ihnen die hiesigen Kollaborateure zur die Hand gehen?« Sie war richtig erzürnt. »An welcher Universität haben Sie eigentlich studiert? In Brünn oder auf dem Mond?«
Er räusperte sich verlegen. »Ich habe an der Fakultät zuden Linksgerichteten gehört, was man mir in meiner heutigen Verfassung wohl nicht gerade anmerkt. Vielleicht haben mich die Tage auf den fürchterlichen Fluchtstraßen fertiggemacht. Ich bin Arzt und beinahe verrückt geworden, als rings um mich gesunde Menschen starben. So bin ich nun einmal. Ich wollte, ich wäre so stark wie Sie, Darinka, und könnte auch mit allem so fertig werden.«
Die Wirkung seiner Worte bestürzte ihn. Ihr Mund verzog sich in jähem Schmerz. Sie hob schnell die Hand und versteckte ihr Gesicht.
»Darinka, um Himmels willen, was ist Ihnen?«
Er sprang auf, setzte sich neben sie und zog sie leicht an sich. »Ich wollte doch nicht ... ich weiß ja nicht ...«
Ein paar kurze Minuten rührte sie sich nicht. Dann seufzte sie und machte sich sanft von ihm los.
»Es ist schon wieder gut. Aber warum glauben Sie, daß nur Sie ...? Ich habe auch manchmal das Gefühl, daß ich einfach nicht mehr weiter kann.«
Mit einer Bewegung, die er schon gut kannte, strich sie ihre Haare glatt. Er zündete sich eine Zigarette an, ehe er fast bittend sagte: »Wenn ich Ihnen irgendwie helfen könnte, Darinka ...«
»Danke. Das ist wirklich nicht nötig. Ich komme ganz gut zurecht.«
»Sie sind wie eine Muschel«, versuchte Michal unglücklich zu scherzen, »unnachgiebig in sich verschlossen.«
Sie antwortete nicht, schaute ihm nur ins Gesicht. In diesem Blick war noch so viel Schmerz, daß er alles daransetzen wollte, um sie davon zu befreien.
»Sie haben mich nicht richtig verstanden«, sagte er entschlossen, »ich bin zwar nicht sonderlich geschickt, aber vielleicht könnte ich doch einen besseren Eindruck in Europa hinterlassen als bisher.«
»Wie soll ich das denn richtig verstehen, Michal?« Ihr Gesicht hellte sich allmählich auf. »Passen Sie auf, ich bin imstande, Sie beim Wort zu nehmen.«
»Ich bin doch kein kleines Kind. Das Schlimmste vonallem ist die Sinnlosigkeit meiner augenblicklichen Nichtexistenz.«
Jetzt blickte sie ihn, wie es ihm schien, fast ein wenig prüfend an, sagte jedoch nichts.
Noch am selben Abend brachte Darinka Michal Racek in ein Restaurant, in dem er noch nie gewesen war. Es lag am alten Hafen, und sie schritten ein Stück am Meer entlang. Ein scharfer Wind wehte. Unruhig eilten die Wellen zum Ufer und dann wieder zurück auf die zürnende See. Sie begegneten wenigen Menschen, nur Polizeistreifen stapften langsam durch die öden Straßen.
Darinka hängte sich bei ihm ein. Eine warme Welle der Freude durchlief Michal.
»Die sollen uns ruhig für ein Liebespaar halten«, sagte sie halblaut, ganz nahe an seinem Gesicht, »normale Menschen würden bei solchem Wetter kaum hier herumspazieren.«
Enttäuschung versetzte ihm einen bohrenden Stich, aber das Glück ihrer Nähe war stärker.
Vor einem Gebäude, dessen hohe verdunkelte Fenster andeuteten, daß hinter ihnen ein größeres Lokal sein mußte, blieb sie stehen.
»Wohin führen Sie mich, Darinka? Ich fürchte, daß ich für ein respektables Etablissement weder entsprechend elegant noch genügend finanzkräftig bin.«
Sie lachte. »Keine Angst, mein Freund. Ihr Äußeres entspricht genau der Marseiller Modelinie 1941.«
Es war in der Tat ein ziemlich elegantes Restaurant, das sie nun betraten. Kellner im schwarzen Frack, eine Garderobenfrau mit einem gestärkten Häubchen auf dem Haar. Dr. Racek kam sich vor wie in einer anderen, wie in der Welt längst vergangener Zeiten. Er half Darinka aus dem Mantel. Sie knöpfte ihren Herrensweater auf. Überrascht stellte er fest, daß sie darunter eine hellblaue Bluse mit einem gestickten Krägelchen trug, und konnte sich nicht erklären, warum ihn diese Entdeckung so freute. Darinka trat zum Spiegel und färbte sich ein wenig die Lippen.Dabei betrachtete sie sich prüfend und fragte: »Zivilisiert?«
Michal Racek zog seine Krawatte fest und bestätigte: »Das will ich meinen.«
Sie betraten den Speiseraum. Darinka blickte sich um und steuerte auf einen Tisch im Hintergrund des nicht übermäßig großen Lokals zu.
Ein ungefähr vierzigjähriger Mann erhob sich. Als das Mädchen bei ihm anlangte,
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