Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo
erstenmal einen Blickwerfen ließ; die interessante, durch ihr ausgeglichenes Selbstbewußtsein so fesselnde Persönlichkeit des Mannes namens Kurt – und all das Neue, mehr Geahnte als Erkannte, das diesen Kurt mit Darinka verband und Darinka mit irgendeinem Hans oder Gaston und anderen Männern und Frauen, die in Marseille lebten, durch dieselben Straßen gingen, vielleicht in denselben Menschenschlangen standen wie er, unauffällig, unerkannt, aber untereinander fest verbunden.
Michal Racek wußte natürlich wie jeder Mensch im damaligen Europa, daß es eine illegale Widerstandsbewegung gegen die Nazis gab. Noch in Brünn hatte er einen Roman über ein KZ gelesen und einen anderen über die unfaßbaren Taten deutscher Untergrundkämpfer. Beide Bücher hatten ihn eher bedrückt als gestärkt. Zu so etwas wäre er niemals imstande. Wie außergewöhnlich mußten die Menschen sein, die solches auf sich nahmen. Und da tauchte auf einmal neben ihm eine Darinka auf, die in nichts einer Jeanne d’Arc ähnelte und immer etwas mehr auf sich nahm, als sie sollte. Warum? Weil sie Kurt, Gaston und werweiß wen noch hinter sich spürte? Vielleicht. Und er irrt inzwischen allein ohne Halt und Sinn durch die Welt. Niemand macht sich besondere Sorgen um ihn, er fehlt niemandem, und es braucht ihn ja auch niemand.
Die dicken Rosen an der Wand grinsten von neuem auf ihn herab, im Spiegel über dem angeschlagenen Waschbecken hing ein Stück dunklen Himmels ohne Sterne, im Nebenzimmer knarrte ein Bett, und Michal Racek fiel ein, daß Darinka vor ihm noch nie einen tschechischen Namen erwähnt hatte, ab und zu nur einen deutschen oder französischen, die wahrscheinlich auch nicht die richtigen waren. Offensichtlich traute sie ihm nicht ganz. Verständlich, einem zufälligen Bekannten gegenüber, einem Menschen, der sie auf der Straße angesprochen hatte, der vielleicht nicht schlecht war, aber ohne Umriß und somit unverläßlich.
Warum gab sie sich also überhaupt mit ihm ab? Warumhat sie ihn mit Kurt bekannt gemacht und ihn in ihren magischen Kreis eingeführt, von dem man, das fühlte er nach seiner ersten Berührung mit ihm, nur schwer wieder loskommen konnte?
Zwei Tage später teilte man Dr. Racek in der Schiffahrtsgesellschaft mit, aus New York sei eine telegrafische Voranzeige eingetroffen. Die Ausfertigung und Übergabe der Schiffskarte sei jetzt wirklich nur mehr eine Frage weniger Tage.
Vor zwei oder drei Wochen wäre das eine glückliche Stunde gewesen. Schluß mit dem Warten, Schluß mit all den Demütigungen und der uneinholbaren Unterbrechung im Leben. Jetzt stand Michal Racek vor dem platinblonden Fräulein und stotterte verwirrt:
»Und dann, ich meine, wenn Sie mir das Ticket aushändigen, dann werde ich gleich abreisen müssen?«
»Müssen?« Das Fräulein widmete ihm zum erstenmal ein freundliches, wiewohl durch Geschäftshöflichkeit ein wenig versteiftes Lächeln: »Keine Sorge, das geht dann sehr schnell, Herr Doktor. Mit der Karte ist automatisch die Reservierung eines Platzes auf einem der nächsten Schiffe verknüpft. Wir stehen Ihnen gern mit allen notwendigen Informationen zur Verfügung.«
Sie lächelte noch einmal, warf ihre tadellose Dauerwelle zurück und wandte sich dann mit dem gewohnten, stets leicht gereizten »Der nächste, bitte!« wieder den Wartenden zu.
So funktionierte das also. Ein Mensch mit einer telegrafischen Voranzeige und automatischen Reservierung gehörte schon halb zu denen auf der anderen Seite, zu den vom Glück Auserwählten. Er sollte sich freuen, sagte sich Dr. Racek, er sollte vor Freude tanzen. Das Leben beginnt von neuem!
»Was ist los, Michal?«
Sie saßen in dem kleinen Café, wo der Zwieback mit Marmelade zu haben war. Darinka steckte in ihrem grauen Herrensweater und sah darin schmal und beinahe nochmädchenhafter aus als in der hellblauen Bluse. Man mußte sie schützen, es war unmöglich, sie zu verlassen.
»Die Schiffahrtsgesellschaft hat eine Voranzeige erhalten. Mein Ticket wird in den nächsten Tagen hier sein. Heute haben sie mir das gesagt.«
Er blickte sie mit schmerzlicher Spannung an. So entging ihm ein leichtes Zucken in ihren Mundwinkeln nicht. In ihren Augen erlosch etwas.
»Das ist großartig, Michal! Ich gratuliere Ihnen, aber Sie werden uns fehlen.«
Uns! Warum sagte sie das? Er war doch kein Dummkopf, um sich einzubilden, daß seine Begleitung bei verschiedenen Aufträgen und Erledigungen, deren Inhalt ihm unbekannt war, dem Mädchen
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