Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo
wegfahren und in meine Einsamkeit zurückkehren, nur um meine leere Existenz zu retten?«
Kurt nahm den Hut ab und legte ihn auf den Stuhl neben sich. Er strich sich mehrmals über den Kopf, ehe er sagte:
»Denken Sie daran, daß Sie Arzt sind, lieber Doktor. Ich will Sie nicht beeinflussen, dazu habe ich kein Recht. Entscheiden müssen Sie sich selbst. Und Darinka – das kann ich verstehen. Sie ist ein ungewöhnliches Mädchen. Aber, verzeihen Sie, sogar das sollte nicht den Ausschlag geben, warum, haben Sie vorhin selbst angedeutet. Es ist kein unwichtiger Schritt, vor dem Sie stehen, ich bin jedoch sicher, daß Sie den richtigen Entschluß fassen werden.«
Es war lange nach Mittag, als sie sich trennten. Vor den Büros der Schiffahrtsgesellschaft waren die Rolläden herabgelassen. Michal Racek schritt langsam durch die Stadt, die sich in den ersten Strahlen einer blassen Sonne wärmte. Als er vor mehr als einem Monat hergekommen war, kannte er hier niemanden. Jetzt begegnete er Menschen, deren Namen er nicht wußte, von denen er jedoch ein Kapitel ihres Schicksals erfahren hat. Die beiden Alten dort drüben stammen gleich ihm aus der Tschechoslowakei, haben einen Sohn in Amerika und warten auf ein Schiff. Sie hoffen, gemeinsam mit dem Herrn Doktor reisen zu können. Auf einer Bank im kleinen Park vor dem Rathaus saß eine schlanke Frau. Von hinten sah sie jung aus, ihr Gesichtverriet ihr wirkliches Alter und zugleich großes Leid: Sie war die Witwe eines Apothekers aus Hamburg, der in der »Kristallnacht« an seiner nichtarischen Herkunft zugrunde gegangen war. Sie hatten ihren einzigen, von einer unheilbaren Geisteskrankheit befallenen Sohn vorsorglich in einer Anstalt in Belgien untergebracht. Die Invasion und der Vormarsch der Wehrmacht verschlug die Mutter nach Frankreich, der Sohn blieb zurück. Jetzt beschwor sie in Marseille jeden: »Sie können sich doch nicht an armen Kranken vergreifen, nicht wahr? Belgien ist schließlich nicht Deutschland!« Den weißhaarigen kommunistischen Schriftsteller aus Österreich hatten die französischen Behörden einige Tage nach Kriegsausbruch verhaftet und in einem Lager interniert. Seine Frau und beide Kinder blieben in Paris. Eine Bombe fiel auf das Haus, in dem sie wohnten, und erschlug die Frau. Fremde Menschen nahmen sich der Kinder an. Ihr Vater wurde nach langer Haft in die Ziegelei Les Milles überführt und wartete nun, daß ihm das Rote Kreuz seine Kinder brachte. Der blinde Offizier der spanischen republikanischen Armee hatte ein Visum für Mexiko. Ein teuflischer Irrtum verschuldete, daß seine Frau und sein siebenjähriges Töchterchen keine Reisedokumente erhielten. Ohne sie fuhr er nicht ab.
Manche Kapitel dieses wahren Romans hatte Michal Racek in den langen Stunden des Wartens erfahren. Die Menschen waren mitteilsam, offenbar nicht mehr imstande, ihre Bürde allein zu tragen. Auch Darinka hatte allerhand erzählt: »Einer unserer Freunde hat im Norden – im besetzten Teil Frankreichs – seine Frau und ein kleines Kind. Wir müssen sie herüberbringen.« Wie? Darüber wußte er nichts. Er begleitete Darinka zu einer Zusammenkunft mit Gaston oder einem Raoul oder Pavel – wer weiß, wie sie alle wirklich hießen –, hörte mehr oder weniger verständliche Abrisse ihrer Gespräche, und ein andermal deutete Darinka an: »Die Interbrigadisten werden aus den französischen Lagern nach Afrika deportiert. Wir versuchen, etwas dagegen zu unternehmen.« Was? Abermals wußte ernichts. Er staunte bloß über die selbstbewußte Ruhe dieser Handvoll Menschen inmitten der fiebrigen Menge, die jeden Augenblick von einer anderen Panik und alarmierenden Nachricht geschüttelt wurde.
Vom niedrigen Rathausturm schlug es zwei Uhr. Michal Racek begab sich zur Schiffahrtsgesellschaft.
»Gut, daß Sie kommen, monsieur le docteur, wir haben Sie schon erwartet. Hier bitte.«
Das platinblonde Fräulein holte aus einem Schubfach ein Bündel Papiere hervor. Michal Racek mußte mehrmals unterschreiben, danach übersiedelte ein Teil der Papiere in seine Brusttasche, der andere kehrte in das Schubfach zurück.
»Danke, das ist alles. Glückliche Reise, monsieur le docteur.«
Ein Murmeln ließ sich in der Menschenmenge hinter ihm vernehmen. Eine Frau lief auf ihn zu, packte ihn an der Hand und redete in gebrochenem Deutsch-Polnisch auf ihn ein:
»Herr Doktor, bitte, wenn Sie Amerika kommen. Sie müssen schreiben meine Schwester in Chicago, Gott wird Sie helfen
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