Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo
...«
»Verzeihen Sie«, flüsterte er und machte sich behutsam aus der krampfhaften Umklammerung ihrer Hände frei.
Auf der Straße atmete er tief auf. Endlich. Endlich wird er wieder ein freier Mensch sein. Natürlich fährt er ab. Keine einzige überflüssige Stunde wird er sich mehr dem erniedrigenden Gehetztsein, der verrückten Hysterie, dem unwürdigen, widerwärtigen Angstgefühl aussetzen.
Er holte seine Papiere hervor und betrachtete sie beinahe hungrig. Dabei fiel ihm ein, daß er sich in der Eile nicht erkundigt hatte, wann sein Schiff eigentlich abfuhr. Er blätterte in dem Heftchen mit gelben, rosa und hellgrünen Blättern. Da war es: »Date of departure – Abfahrtsdatum.«
Sein Herz setzte aus. Das war ja – das war doch schon übermorgen.
»Bis spätestens 15 Uhr mit sämtlichen Papieren an Bordzu erscheinen ...« Mit anderen Worten: heute nachmittag, morgen und noch ein Vormittag. Und übermorgen? Schon übermorgen? Und Darinka? Bei dem Gedanken an sie verlosch seine Freude über das Entrinnen vollends. Darinka! Wie konnte er sie verlassen? Und vielleicht nie wiedersehen? Für heute waren sie nicht verabredet, erst für morgen vormittag. Aber morgen trennten ihn nur mehr einige Stunden von der Abreise ...
Er blieb mitten auf der Straße stehen und stöhnte auf wie in unerträglichem Schmerz. Niemand beachtete es. In jener Zeit war Schmerz eine alltägliche Erscheinung geworden. Die Menschen hatten sich an ihn gewöhnt wie an die Glühlampen ohne Licht, an das Essen, das niemanden satt machte, wie an Fieber bei einer Krankheit. Ein gefährliches Übel, das wieder verschwindet, wenn man sich dagegen wehrt. Und so wehrten sie sich und warteten.
Michal Racek kehrte in sein Hotel zurück. Als ihm auf der Treppe der bekannte Geruch aus den ungelüfteten dunklen Korridoren entgegenschlug, meldete sich abermals die Freude: nur noch zwei Nächte. Nur noch zwei Nächte wirst du den Kopf ins Kissen vergraben, um das Flüstern im Nebenzimmer nicht zu hören. Nur noch zweimal werden dich am Morgen die dicken Rosen von der Wand herab angrinsen und dann ...
Und dann?
Er warf seinen ganzen Besitz aus dem Koffer und breitete ihn auf dem Bett aus. Von den fünf Hemden, die er erstaunlicherweise noch besaß, waren nur zwei sauber und gebügelt. Seine Socken befanden sich durchwegs in desolatem Zustand, beide Krawatten waren verdrückt. Den Mantel hatte er auf der Flucht durch Frankreich verloren. Er lief in Marseille in seinem einzigen Anzug und einem Pullover herum. Und so wollte er neu beginnen? Wiederum: »Verzeihen Sie, ich bin Dr. Michal Racek aus der Tschechoslowakei ...«
Er schüttelte sich vor Grauen.
Er wird nirgends hinfahren, wird zu Kurt gehen und ihmsagen: Ich habe mir alles überlegt und habe mich entschieden. Ich bleibe hier und werde so leben wie ihr.
Und Kurt wird lachen und fragen: Wie stellen Sie sich das eigentlich vor, lieber Freund? Ahnen Sie überhaupt, wie wir leben? Und was werden Sie tun? Sie wissen immer noch nicht, was Sie wollen. Wie könnten wir Ihnen da vertrauen?
Abermals stöhnte er, diesmal so laut, daß man es im Nebenzimmer hören mußte. Aber dort war es heute still. Vielleicht hatte der Mann keinen Urlaub aus der Ziegelei Les Milles bekommen, vielleicht seine Frau keinen Durchlaßschein aus dem Hotel Bompard, wo sie interniert war. Oder vielleicht sind ihre Schiffskarten auch schon eingetroffen, und die beiden laufen zusammen durch die Stadt, außer sich vor Glück.
In einer jähen Aufwallung von Verzweiflung fegte Michal Racek sein ganzes Hab und Gut auf den Boden, warf sich aufs Bett und blieb dort bewegungslos liegen. Er ist und bleibt allein. Niemand vermißt ihn, und niemand braucht ihn – dort wie hier, hier wie dort.
Lange lag er so, schlief auch kurz ein. Als er zu sich kam, dämmerte es draußen bereits. Er hatte einen ganzen Nachmittag vertan, ein Viertel der Zeit, die ihm noch in Marseille übrigblieb. Er drehte sich auf den Rücken und blickte zur Zimmerdecke, um die dicken Rosen nicht zu sehen, die zu dieser Stunde besonders gehässig zu grinsen schienen. Jemand klopfte an der Tür.
Michal Racek stand auf, angelte im Finsteren nach seinen Schuhen und knipste die Nachttischlampe an, deren einst rosa und jetzt nur noch farbloser Schirm seltsame Lichtstreifen in einen Winkel des Zimmers warf. Die beiden von nebenan sind also doch eingetroffen. Wahrscheinlich hat der Mann wieder einmal vergessen, Streichhölzer zu kaufen. Er wird ihm sagen müssen,
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