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Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo

Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo

Titel: Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenka Reinerova
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kalt und böse.«
    Ihr Gesicht hatte der Mond in eine durchsichtige Muschel verwandelt, auf der der Mund zitterte und die Augen brannten. Michal Racek biß sich auf die Lippen, um sich nicht über den zitternden Mädchenmund zu beugen. Er fühlte, daß in Darinka etwas vorging, und konnte sich nicht erklären, was. Er zog sie leicht an sich. Sie ließ es geschehen, schmiegte sich sogar an ihn.
    »Ist dir nicht kalt, Darinka?«
    »Ach wo. Mir ist wunderbar. Ich möchte die ganze Nacht so fahren. Nur so. Ohne Ziel und überhaupt ohne alles.«
    »Und ich?«
    »Du würdest mit mir fahren, Michal, hier in dieser Straßenbahn, in die der Mond gar nicht hereinkönnte.«
    War das wirklich Darinka, das tapfere und hoffnungslos vernünftige Mädchen?
    Felder, Treibhäuser, da und dort ein Haus, da und dort ein Baum und irgendwo weit weg das ferne Krachen von Bomben, die dem Hafen von Marseille galten.
    Sie schwiegen, nur ihre Hände hatten einander gefunden.
    »Wir sind schon gleich da«, sagte Darinka endlich, »jetzt wirst du meine Familie kennenlernen, Michal.«
    »Deine Familie?«
    »Ja. Du wirst schon sehen.«
    Der Schaffner klingelte mit Nachdruck. Endstation. Sie halfen einer alten Frau, zwei zugedeckte Körbe aus dem Wagen zu heben. In einem piepste schläfrig ein Huhn. Dann stiegen sie selbst aus.
    Draußen war es kalt und windig. Herber, gesunder Dorfgeruch lag in der Luft.
    »Ich wußte gar nicht, daß die Straßenbahn so weit fährt«, wunderte sich Michal. »Das ist doch nicht mehr Marseille.«
    »Nein. Wir sind in La Valentine, und dort hinten auf dem Hang liegt Saint Julien.«
    Darinka schritt rasch auf einem Feldweg aus. Michal Racek ging hinter ihr und prägte sich unwillkürlich das Bild ein, das er so mochte: den federnden Gang, den aufrechten Rücken, den leicht zurückgeworfenen Kopf.
    »Wir sind schon fast da. Schau scharf nach rechts. Siehst du ein Haus? Das ist es.«
    Ein paar Minuten später standen sie vor einem niedrigen, sorgfältig verdunkelten Bau. Weit und breit gab es kein anderes Gebäude.
    »So, Michal, das ist unsere Burg. Komm schnell hinein, damit kein Licht herausfällt. Hier sieht man alles verdammt weit.«
    Darinka öffnete die schmale Haustür nur einen Spaltbreit und zog Michal hinter sich. Sie betraten einen kleinen, dürftig von einer Glühlampe an der Zimmerdecke erhellten Raum. Links sah man in eine Küche, aus der eine schöne junge Frau zu ihnen trat.
    »Endlich!« rief sie aus. »Wir warten schon so auf Sie, Herr Doktor.«
    »Das ist Miriam«, stellte sie Darinka vor. »Wie fühlt sich Diego?«
    »Er sagt nichts, aber bestimmt hat er große Schmerzen,ist ganz weiß im Gesicht. Kommen Sie bitte, Herr Doktor.«
    Miriam, Diego. Und er hatte angenommen, Darinka würde ihn zu Tschechen führen.
    »Ist der Arzt schon da?« Aus einer Tür gegenüber der Küche blickte ein mageres Mädchen hervor. Es sprach deutsch. »Na, Gott sei Dank, Darinka, war schon höchste Zeit.«
    »Das ist Lotte«, sagte Darinka, »und der Vollbart hinter ihr ist ihr Mann Pavel, ein Tscheche. Komm schnell, ehe sich hier unser ganzer Völkerbund versammelt. Dein Patient ist Brasilianer, aber er spricht ganz gut französisch.«
    »Guten Abend, Herr Doktor! Schön, daß Sie gekommen sind.«
    Endlich ein bekanntes Gesicht. Den blonden Mirek mit den blauen Augen eines erstaunten Kindes kannte Michal Racek von seinen Botengängen mit Darinka. Sie schüttelten einander die Hände. Bereits auf der Treppe nach oben bemerkte Mirek:
    »Diego ist ein ganz ungewöhnlicher Mensch, Doktor. Wir müssen ihm helfen.« Damit öffnete er die Tür zu einem kleinen Zimmer.
    Auf dem Fußboden lagen Matratzen und Decken, der Kranke war in einer Ecke auf ein Sofa gebettet. Sonst gab es in dem Zimmer nur noch zwei kleinere Koffer und einen Lehnstuhl, aus dem eine abgebrochene Sprungfeder hervorlugte. Auf dem Fensterbrett standen in einem Wasserkrug zwei dunkle Rosen.
    »Cómo te va, Diego? Aquí te traigo el doctor.« Mirek brachte es fertig, erstaunlich rücksichtsvoll, mit fast zarter Stimme zu sprechen. »Wie geht es dir, Diego? Hier bringe ich dir den Doktor.«
    Michal Racek trat zu dem Sofa. Vor ihm lag ein vielleicht vierzig-, vielleicht aber erst dreißigjähriger Mann mit einem schmalen, scharf geschnittenen Gesicht, leicht hervorstehenden Backenknochen und einer Adlernase. Er hatte eine auffallend hohe Stirn, glänzend schwarzes Haar,und in seinen Augen war großer Schmerz zu lesen. Er hob müde eine magere, bronzefarbene Hand

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