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Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo

Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo

Titel: Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenka Reinerova
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daß er schon seine Schiffskarte hat, wird sich von ihm beglückwünschen lassen müssen. Mißmutig schloß er auf.
    In der Tür stand Darinka.
    Nur einen Augenblick, nur einen Herzschlag lang blieb Michal bewegungslos. Dann schloß er sie ungestüm in seine Arme. Zuerst wehrte sie sich ein wenig, mit einemmal gab sie nach. Er suchte ihren Mund, da schob sie ihn sacht von sich.
    »Nicht, Michal, bitte nicht!«
    »Warum, Darinka, warum? Du bist doch gekommen. Du bist zu mir gekommen.«
    Sie streichelte sein Gesicht. Er ergriff ihre Hand und küßte jeden Finger, das schmale Handgelenk.
    »Laß das, Michal, ich bitte dich. Es wird für uns beide nur schlimmer. Ich bin – ich bin gekommen, um dich um etwas zu bitten, das nicht bis morgen warten konnte.«
    Seine Arme wurden bleischwer und sanken langsam herab. Er ist hoffnungslos töricht und lächerlich. Er wandte ihr den Rücken zu und sagte beinahe böse: »Und was brauchen Sie?«
    Stille. Nur der Wasserhahn tropfte, und nebenan schloß jemand vorsichtig die Tür auf. Dann knarrte ein Stuhl. Darinka hatte sich auf ihn fallen lassen. Michal wußte es, ohne sich umzudrehen, fühlte, daß ihre grauen Augen auf ihm ruhten.
    »Komm her zu mir, Michal.«
    Sie sagte es sehr leise, und in ihrer Stimme waren Tränen. Das konnte er nicht ertragen.
    »Verzeih, Darinka, ich weiß, daß ich ein Narr bin. Weine nur um Himmels willen nicht.«
    Sie nahm seine Hand und legte ihr feuchtes Gesicht hinein.
    »Was denkst du eigentlich über mich, Michal? Ich bin doch auch nicht aus Holz, und dich habe ich liebgewonnen. Aber zu Hause in Prag ist jemand geblieben – wie soll ich es dir nur sagen –, ein Stück von mir ist dort geblieben. Vor kurzem kam die Nachricht, daß er verhaftet wurde. Und ich lebe hier, und manchmal scheint es mir, daß ich es gar nicht bin, so sehr bin ich in Gedanken dort, bei ihm. Kannst du das verstehen?«
    Sie ließ seine Hand los, stand auf und strich mit ihrer vertrauten Bewegung die Haare glatt. Dann sagte sie mit einer anderen, fast schon mit ihrer gewöhnlichen Stimme.
    »Was ist hier los? Ziehst du um?«
    »Nein, nein.« Auch Michal Racek hatte sich wieder in der Gewalt. »Ich wollte bloß endlich einmal ein bißchen Ordnung machen. Schau dich lieber nicht um. – Und jetzt sag mir bitte, was du von mir brauchst.«
    »Einer unserer Freunde ist krank. Er erbricht alles und hat gräßliche Magenschmerzen. Ich wollte dich bitten, ihn zu untersuchen.«
    »Ich besitze fast gar keine Instrumente, keine Medikamente. Kann ihm nicht sehr nützen.«
    »Uns geht es vor allem darum, daß du ihn siehst und uns dann vielleicht raten kannst, was wir mit ihm anfangen sollen.«
    »Das geht.«
    Dr. Racek holte aus dem Schrank ein schwarzes Etui mit einigen Instrumenten hervor. Sonderbar, er hatte dabei dasselbe Gefühl wie einst vor seiner ersten entscheidenden Diagnose, nämlich daß ihm die ganze Welt, nicht nur sein Professor damals und nun dieses grauäugige Mädchen, ein überraschendes Vertrauen zeigen. Und das war stärker als seine Enttäuschung.
    Als sie auf die Straße traten, blinzelte an der Ecke die blau angepinselte Lampe. Er zog Darinkas Arm durch den seinen, und sie glich ihren Schritt protestlos dem seinen an.
    »Wohin führst du mich eigentlich?« fragte er.
    »Abwarten und Tee trinken«, sagte Darinka beinahe fröhlich. Sie war ihm dankbar und fühlte sich seltsam geborgen in seiner Nähe. »Jetzt wirst du bald sehen, wo ich wohne.«
    Ihre Schritte hallten gleichmäßig durch die leere Gasse. Ehe sie auf die Hauptstraße einbogen, bemerkte Darinka noch: »Ich bin froh, daß du zu uns kommst, Michal.«
    An der Endstation beim Theater stiegen sie in eine der gelben Marseiller Straßenbahnen ein.
    »Hier habe ich dich zum erstenmal angesprochen«, sagte Michal.
    »Ich weiß«, antwortete Darinka, »damals hat es fürchterlich geregnet.«
    Dann schwiegen sie. Die Straßenbahn ratterte schnell durch die dunkle Stadt. Michal Racek fühlte in seiner Brusttasche ein hartes Viereck – das Heftchen mit den Tickets für das Schiff, das übermorgen abfuhr. Er wird Darinka nichts davon sagen.
    Sie ließen die letzten Straßen hinter sich. Jetzt leuchteten die Schienenstränge zwischen Gärten und Feldern. Hinter einer bauschigen Wolke kam der Mond hervor. Er setzte sich über die Verdunkelungsvorschriften hinweg und überflutete Sträucher, Bäume und die Dächer von Treibhäusern mit blauweißem Licht.
    »Ich mag den Mond nicht«, flüsterte Darinka, »er ist

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