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Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo

Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo

Titel: Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenka Reinerova
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wirklich etwas bedeutete. Im Gegenteil. Sie halfen ihm, im luftleeren Raum des Wartens zu atmen.
    »Darinka«, sagte er und ließ es nicht zu, daß sie ihren Blick abwandte, »Ihnen werde ich auch ein wenig fehlen?«
    »Mich fragen Sie nicht, Michal, ich bitte Sie darum.«
    »Doch, ich muß«, drängte er, »jetzt muß ich schon. Darinka, ich – ich brauche ja nicht zu fahren.«
    Sie schloß die Augen und lehnte ein wenig den Kopf zurück. Er nahm ihre Hände in die seinen. Sie waren kalt. Da sagte sie sehr leise und müde:
    »Fahren Sie nur, Michal, meinetwegen werden Sie doch nicht hierbleiben. Das wäre Wahnsinn. Sie werden mir fehlen, das ist wahr. Aber ich – ich kann Ihnen nie mehr geben als die Freundschaft, die Sie schon haben. Die nehmen Sie auch mit. Falls ich Sie verwirrt habe, dann verzeihen Sie mir bitte.«
    Er ließ ihre Hände los. Selbstverständlich. Alles war in bester Ordnung. Ich bin Dr. Michal Racek aus Brünn. Verzeihen Sie bitte, daß ich in Ihr Leben getreten bin. Ich bleibe ja auch nur an der Schwelle, sozusagen zwischen Tür und Angel. Und in einigen Tagen verschwinde ich. Gott sei Dank, daß ich endlich von allem wegfahren kann.
    »Michal!«
    Er steckte sich eine Zigarette an. Das Flämmchen über dem Streichholz flackerte. Darinka blickte ihn traurig an, aber ihre Stimme war wieder fest, als sie sagte:
    »Sie kommen weg, Michal, und werden Amerika kennenlernen. Das ist doch wunderbar. Und nach Hause zurückkehren werden Sie eines Tages als hervorragender Arzt. Ich könnte Sie beinahe beneiden, wirklich.«
    »Beneiden? Sie mich? Das wäre absurd. Ehe ich Sie kennengelernt habe, bin ich wie ein verlassener Hund in Marseille herumgelaufen. In Amerika wird das nicht anders sein, eher noch schlimmer. Darüber mache ich mir keine Illusionen. Sie wissen wohl überhaupt nicht, wie verlassen man sich auf der Welt fühlen kann, Darinka.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Sie haben recht, Michal, das kenne ich kaum. Für solche Stunden rufe ich in mir meinen ganz privaten Hausengel zu Hilfe. Der kommt, wenn er merkt, daß man selbst den guten Willen hat, sich nicht von einer bösen inneren oder äußeren Gefahr unterkriegen zu lassen, ganz allein damit jedoch nicht fertig werden kann. Da hilft er dann und ebnet auch den Weg zu den Mitmenschen.« Sie hielt ein wenig inne. »Jetzt habe ich Ihnen ein bißchen von meiner kuriosen Privatphilosophie enthüllt. Auch Sie werden eines Tages begreifen, daß einem Alleinsein nur bis zu einem gewissen Grad aufgezwungen werden kann. Forschen Sie Ihrem Hausengel nach.« Und sie lachte leise, aber ganz vergnügt.
    Das war wieder wie damals am Anfang. Das war der aufrechte Mädchenrücken in der Schlange der Wartenden. Das war das unausgesprochene Band zwischen Kurt, dem Deutschen, und Darinka aus Prag. Deshalb wirkte wahrscheinlich ein einfacher Händedruck und eine flüchtige Begegnung mit Gaston tagelang wie etwas Besonderes, Ermutigendes. Verfolgung, Krieg und gewaltsamer Tod waren unmenschlich und mußten deshalb bekämpft und letztendlich beseitigt werden. Dieser Wille (halfen hierbei die Hausengel?) ging von all den Menschen aus, denen er in den letzten Tagen an der Seite Darinkas begegnet war.Auch deshalb zog ihn weiterhin so stark dieses grauäugige Mädchen an, das ihm gerade gesagt hatte, daß es ihn nicht braucht.
    »Und wenn ich doch bliebe?«
    »Sie sind unmöglich, Michal, und haben frische Luft nötig. Wir zahlen jetzt und gehen ein bißchen spazieren.«
    Wieder einmal schritten sie durch die krummen Gassen des alten Hafenviertels. Er nahm ihren Arm, obwohl es diesmal nur ein »privater« Spaziergang war im Unterschied zu anderen, bei denen sie sich an den Händen hielten, um sich durch leichten Druck gegenseitig zu warnen: »Achtung, ein deutscher Offizier!« oder »Der Mensch dort drüben gefällt mir nicht!« An diesem Tag war Darinka mit niemandem verabredet, ihre große Handtasche hing schlaff am Riemen, und die ausgebeulten Manteltaschen standen nur aus Gewohnheit ab.
    Auf dem Wasser schaukelten Fischerkähne. Sie konnten nicht mehr auf die See hinausfahren, weil niemand ihre Motore mit Treibstoff speiste, so wie allmählich auch niemand mehr die Marseiller Fischer mit wärmendem Rotwein versah.
    Der Abend war über die Stadt hereingebrochen. Da und dort glitt ein schmaler Streifen Licht aus den verdunkelten Eingängen der Hafenkneipen. Die Straße lag in schwarzer Dunkelheit, nur die weißgestrichenen Ränder der Gehsteige glänzten matt, wenn

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