Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo
sollen. Eine Anweisung gibt auch vor, niemand dürfe allein außerhalb des Kurparks spazieren, was vor allem bei Herzkranken eine verständliche Maßnahme darstellt.
Hanna zog – mit einem Wölkchen schlechten Gewissens im Kopf – immer allein los. Du wirst doch auf mich aufpassen, beschwor sie ihren Hausengel, hast es schon so oft getan, zumal hier alle gut zu mir sind, wir müssen uns gegen nichts und niemanden wehren. Vorgeschrieben ist nur Erholung, so etwas hatten wir noch nicht. Ganz einfach ist das freilich auch nicht mit all den Pflichten und der Einhaltung des strengen Zeitplans. Von einem Computer kann man allerdings auch kaum Verständnis dafür erwarten, daß man auf keinen Fall zwei Amseln am Waldrand nicht stören durfte, die mitten auf dem Weg einen heftigen Disput führten und dann plötzlich zu liebevollem Geflatter und Gezwitscher übergingen. Daß man zu dem Sträußchen weißer Gänseblümchen und goldgelber Dotterblumen dringend noch ein paar blaue Glocken pflücken mußte, selbst wenn das die vorgeschriebene Spazierstunde beträchtlich überschritt. Für so etwas konnte der in der Zeitplanung surrende Rechner natürlich kein Verständnis aufbringen, aber Hanna genoß Wald und Wiesen, erholte sich dabei geradezu vorschriftsmäßig, und der hübsche Blumenschmuck, den sie von ihren Wanderungen mitbrachte, bekam auch ihrem Zimmer ohne Telefon und Klingel.
Die Sonntage in dem Kurort hoben sich durch einen besonderen Programmpunkt vom Rest der Woche ab. Im kleinen Amphitheater vor Hannas Fenster gab es ein Mittagskonzert unter freiem Himmel. Blasmusik schmetterte fröhlich und laut durch die heiße Sommerluft, volkstümliche Sänger und Sängerinnen hatten hier ein dankbares Publikum, das sich gern zum Mitsingen hinreißen ließ und nicht mit langanhaltendem Beifall sparte.
Mit Ausnahme der Ambulanzwagen, die wiederholt diskret und schnell einen schwer erkrankten Patienten ins nächstgelegene Bezirkskrankenhaus transportierten oder gar einen jäh Verschiedenen wegbrachten, war hier alles darauf ausgerichtet, in gleichmäßigem Rhythmus und ohne Störfälle und Aufregung zu funktionieren. Und doch.
Es kam ein Abend, da Hanna wie gewöhnlich zu relativfrüher Stunde mit einem Buch in ihrem Zimmer ohne Telefon und Klingel im Bett lag, durch das offene Fenster strömte Grasduft und frische Luft herein, und sie glaubte beinahe zu fühlen, wie sich die Schlacken täglicher Sorgen, persönlicher und allgemeiner Ängste von ihr lösten. So ein Erholungsaufenthalt hat schon etwas für sich, sinnierte sie und wunderte sich, immerhin etwas verspätet zu solcher Erkenntnis gekommen zu sein.
In diesem Augenblick zerriß ein durchdringender Laut die sommerliche Nachtstille. Die Stimme einer Sirene heulte auf, einmal und noch einmal. Dann trat geradezu atemlos eine kurze Pause ein, ehe der grelle Warnruf von neuem die nächtliche Stille zerschnitt.
Mit einem Satz war Hanna am Fenster. Doch vor ihren Augen lag nur der schwarzblaue Nachtsamt, da und dort glitzerte ein fernes Sternchen. Keine Bomben, keine Flammen, keine fliehenden Menschen, wie sie es, von jähem Entsetzen geschüttelt, beinahe erwartet hatte. Irgendwo knirschte eine Straße unter schweren Rädern. Hanna legte ihre Hände auf das noch sonnenwarme Fensterbrett. Die Berührung des rauhen Holzes tat ihr wohl. Da lehnte sie auch den Kopf an den Fensterrahmen, versuchte, die erneut eingetretene Stille einzuatmen, die wirren Bilder aus dem Kopf zu verdrängen. Sirenen sind Katastrophen, sind Flugalarm, sind Krieg, und Krieg ist Vernichtung. Wenn Sirenen heulen, weinen Menschen. Wenn Sirenen laut werden, ist der Tod nahe. Gewaltsamer Tod.
Von draußen drang kein Laut mehr in das stille Zimmer, nur das Rauschen in den Baumkronen, das schlaftrunkene Piepsen eines Vogels.
Hanna kehrte in ihr Bett zurück, legte beide Hände auf die weiche Decke, blickte mit weit offenen Augen in die Finsternis und bemühte sich, nur das wahrzunehmen, was wirklich hier war: den Tisch, das Bücherbrett an der Wand, den Lehnsessel mit dem schadhaften orangefarbenen Bezug.
Allein die wachgerüttelten Erinnerungen ließen sich nicht so leicht verdrängen. Marseille und das Jaulen derSirenen, vermischt mit dem tiefen Brummen schwerer deutscher Bomber, wenn sie, von Norden kommend, die Stadt und vor allem den Hafen anflogen. Damals war Krieg.
Aber auch in tiefem Frieden, mitten im Sommer des Jahres 1968, hatten in Prag Sirenen ihre gellenden Stimmen erschallen lassen, als
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