Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo
Kenntnis genommen, sondern beinahe liebevoll umsorgt. Sie war zweifellos die Älteste in der Runde, aber das war sie ja vom Anfang an.
»Möchten Sie noch ein wenig Suppe?« hieß es. »Kann ich Ihnen eine Scheibe Brot holen? – Soll ich fragen, warum Ihr Tee noch nicht da ist?«
Was war geschehen? Nichts Besonderes. Neben der Griebenkonversation, die mit gewissen Unterbrechungen stets von neuem weitergeführt wurde, ergaben sich auch andere Gesprächsthemen, in die sich Hanna eines Tages ungefragt und unaufgefordert eingeschaltet hatte. Sie erkundigte sich nach dem Beruf ihrer Tischgenossen, nach ihren Krankheiten – das war ein bevorzugter Gesprächsstoff –, wo sie zu Hause waren, und sie lobte sogar die Gesundheitsdiät, die hier verabreicht und an den Nebentischen laut bemängelt wurde. Gerade damit gelang es ihr, das Eis zu brechen.
Die gutherzige Frau zu ihrer Rechten schimpfte über dieUnbescheidenheit der Menschen im allgemeinen und der hiesigen Kurpatienten im besonderen. Das ältere Ehepaar –
ein Bergarbeiter im Ruhestand mit Gattin – berichtete eingehend über das häusliche rationelle Speiseprogramm (wobei die Grieben ausnahmsweise unerwähnt blieben), und alle drei erboste das Gehabe vieler Gäste. Besonders die schnatternde Damengruppe und das himmelblaue Kleid mit der großen Sonnenblume an delikater Stelle erregten ihre Empörung.
»Sie sind Gott sei Dank anders«, sagte Hannas Tischnachbarin harmlos, »Sie sind überhaupt anders.«
»Ja? Wie denn?«
Die Frau wurde verlegen. »So«, flüsterte sie beinahe und errötete leicht, »eben anders. Aber das ist ja gut.«
Wie hieß es doch am ersten Abend? »... aber sehr anständig.« Diesmal lautete es: Aber das ist ja gut.
Hanna suchte mit den Augen den Mann mit dem halben Gesicht. War auch er »anders«? Er löffelte gerade in seinem Kompottschüsselchen, schob es, als es leer war, von sich, stand auf und eilte, wie immer mit gesenktem Kopf, aus dem Saal. Sein Anderssein war wohl besonders hart.
Wie stand es mit seinem Hausengel? Die Menschen, die vor seinem zerstörten Gesicht zurückschreckten, waren nicht böse, keiner von ihnen trug Schuld an seinem Unglück. Oder doch? Jeder entsetzte Blick vertiefte ja sein Anderssein, verstieß ihn aus der selbstverständlichen Gemeinschaft »normaler« menschlicher Wesen.
Im übrigen konnte »anders« recht verschiedenartig sein. Eine dunklere Hautfarbe oder schräggestellte Augen; ein andermal eine weiße Hautfarbe und helle Augen; oder ein mißratener Wuchs, ein auffallendes Gebrechen. Die Zugehörigkeit zu einer anderen als der dominierenden Rasse, eine unterschiedliche Denkweise ...
»Vergessen Sie nicht, den Apfel und die Banane mitzunehmen«, ermahnte die Frau des Bergarbeiters Hanna, hielt ihr den Teller mit dem Obst hin und unterbrach damit ihre niederdrückenden Überlegungen.
»Ach ja, danke.«
Schon im Weggehen hörte sie noch das freundliche »Auf Wiedersehen«, das ihr ihre Tischgenossen nachriefen.
Die Prozeduren, denen man sich bei der Kur unterziehen mußte, waren vielfältig, zeitlich anspruchsvoll, zum Teil durchaus angenehm, zum Teil ein bißchen lästig und anstrengend. Nie zuvor hatte Hanna Tag für Tag so viele dicke, dünne, ästhetisch erfreuliche, aber auch unerfreuliche, ganz oder zumindest teilweise nackte weibliche Gestalten um sich wimmeln gesehen. Das allein war schon ermüdend, aber eine nicht uninteressante Erfahrung. Beim Warten in einem nicht gerade einladend wirkenden Korridor wurden Bekanntschaften angebahnt, jeder schwatzte mit jedem. Dort traf Hanna auch die einstige Postbotin wieder.
»Wann werfen Sie Ihre Krücken weg?«
Die Frau lachte. »Noch nicht, aber vielleicht schon bald.«
Einmal kauerte das magere Männchen mit dem halben Gesicht auf einer der Wartebänke. Hanna setzte sich neben ihn.
»Frauen sitzen gegenüber«, sagte er leise.
»Ist doch egal«, antwortete sie. »Wie geht es Ihnen? Schlägt die Kur an?«
In der intakten Gesichtshälfte wandte sich ihr ein erstauntes Auge zu.
»Danke. Aber warum ...«
In diesem Augenblick wurde er zur Massage aufgerufen.
Der Kurort liegt in einer schönen Landschaft. Am Horizont wölben sich sanfte Hügel, die Wälder ringsum sind gesund und frei von Unrat, werden nicht von Touristen heimgesucht. Die Patienten, die hier ihre vorgeschriebenen Spaziergänge absolvieren, bewegen sich folgsam auf den gleichfalls vorgeschriebenen Pfaden, ängstlich die Dauer kontrollierend, die sie dabei verbringen
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