Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo
schob eventuelle Befürchtungen im Zusammenhang mit der Kontaktlosigkeit ihres Zimmers als offensichtlich überflüssig beiseite. Schlimmstenfalls hatte sie ja ihren Hausengel.
Die erste Mahlzeit Hannas im Kurhaus war das Abendessen am Ende ihres Ankunftstages. Im Korridor vor dem Speisesaal wartete eine dichtgedrängte, zum Teil plaudernde, zum Teil schon recht ungeduldige Menge vor der noch geschlossenen großen Glastür. Hanna wurde nicht zur Kenntnis genommen und konnte ungehindert ihre Mitpatienten, Mitbewohner und Mitspeisenden betrachten. Manche sahen schon frisch und erholt aus, andere schleppten sich mühsam heran. In einer Ecke stand zur Wand gekehrt das magere Männchen mit der seltsamen Kopfhaltung.
Als die Tür schließlich aufging, strömten alle ihrem gewohnten Platz zu. Hanna blieb an der Schwelle stehen. Eine gefällige Empfangsdame eilte herbei und führte sie zu einem leeren Tisch, der für vier Personen gedeckt war.
»Hier wird für die Dauer Ihres Kuraufenthaltes Ihr Platz sein«, belehrte sie die junge Frau. »Bitte merken Sie sich die Tischnummer.«
Nach einer Weile erschien ein älteres Ehepaar, grüßte kurz und belegte zwei der leeren Stühle. Dann kam noch eine auch nicht mehr ganz junge Kurpatientin und setzte sich auf den letzten freien Stuhl. Nun war man komplett, und Hanna hielt es für angebracht, sich ihren drei Tischgenossen, die anscheinend schon länger gemeinsam an diesem Platz saßen, vorzustellen.
»Guten Abend. Ich heiße Hanna Rendlová.«
Sie nickten ihr kaum zu, stellten sich ihrerseits nicht vor und setzten ihr lebhaftes Gespräch sogleich wieder fort. Es ging dabei um die beste Art, Schweinsgrieben zuzubereiten. Hanna war Luft. Sie versuchte, nicht zuzuhören, denn selbst das nur in begeisterte Worte gefaßte Gebrutzel des Specks bekam ihr ganz und gar nicht.
Sie blickte sich um. Am Nebentisch saß eine Frau, die zwei Krücken an ihren Stuhl gelehnt hatte. Etwas weiter entdeckte sie das magere Männchen, diesmal mit gesenktem Kopf, zwischen zwei laut und selbstgefällig von Lachen geschüttelten Männern. Ihre Konversation konnte man nicht überhören. Der eine bemerkte gerade gemütlich: »Ach wissenSie, der Mann war Jude, aber sehr anständig.« Hanna zuckte kaum merklich zusammen. Atemlos, weil eigentlich schon verspätet, rauschte eine Blondine in den Raum. Sie trug ein himmelblaues Kleid mit einer großen Sonnenblume im Stoffmuster, die, von der Hüfte ausgehend, gerade ihr nicht unbeträchtliches Hinterteil schmückte. In Miami Beach wäre dieser Aufzug kaum aufgefallen, aber hier?
Sei nicht so kritisch, flüsterte der Hausengel Hanna zu, deinen Tischgenossen paßt an dir offenbar auch allerhand nicht. Das war in der Tat schwer zu übersehen.
Am nächsten Morgen, nach der Einführungsvisite bei einem Arzt, der sich, wie ihr schien, beinahe mehr für ihre verschiedenen Aktivitäten interessierte als für ihren auffrischungsbedürftigen Gesundheitszustand, dann aber doch ein recht umfangreiches Programm in ihren Patientenpaß kritzelte, mußte sie für die Zeitplanung eine Dame mit Computer in der »Prozeduren-Aufschlüsselung« aufsuchen. Das entpuppte sich als eine beinahe erschreckende Erfahrung. Die ganze Angelegenheit verlief fast wortlos. Mit Fingerdruck der jungen Dame wurde ein Apparat eingeschaltet, der ein bißchen zischte und dann ein langes Verzeichnis von Hannas Kurpflichten ausspuckte. Eingeschüchtert nahm sie zwei vollbedruckte Blätter in Empfang und las die erste Zeile:
»6 Uhr früh Kohlensäurebad.«
»Warum so bald?« fragte sie entsetzt.
»Die Zeitangaben des Computers sind präzis und müssen eingehalten werden«, lautete die tiefgekühlte Antwort.
Hanna schwankte verunsichert aus der Prozeduren-Aufschlüsselung und stieß in ihrer Verwirrung beinahe mit der Sonnenblume auf himmelblauem Hintergrund zusammen.
Schau dich um, flüsterte ihr der Hausengel zu, alle haben hier einen Zeitplan und sehen ganz zufrieden aus. Wir werden das auch schaffen, du solltest den ganzen Betrieb nicht zu ernst nehmen.
Also gut, sagte sich Hanna. Der Himmel war blau, die Sonne schien, und so beschloß sie, vor der nächsten Mahlzeitein wenig nähere Bekanntschaft mit dem Kurpark zu schließen.
In der großen Anlage war es still, ein paar Eichhörnchen huschten über den gepflegten Rasen, Vögel hüpften vertraulich um die zahlreichen, durchweg vollbesetzten weißen Bänke. Eine Krankenschwester bemühte sich, den fast völlig gelähmten Mann erneut das
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