Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo

Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo

Titel: Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenka Reinerova
Vom Netzwerk:
Panzer der bis gestern Verbündeten in die schlafenden Straßen eindrangen.
    Besonders unheimlich und bedrohend ist das Auf und Ab des Sirenengeheuls, wenn es im Gefängnis über den Menschen hereinbricht. Auch das hatte sie erlebt, in Paris und später, fassungslos, weil bis dahin unvorstellbar, sogar in ihrem heimatlichen Prag. Wird die Zellentür aufgehen, ehe das Gebäude einstürzt? Was bedeutete das unheimliche Jaulen ohne Kriegsgefahr? Was sollte es verdecken?
    Hanna hatte zudem auch ein Sirenenerlebnis durchaus anderer Art, das in ihr tief und, wie sie wußte, unauslöschlich verankert war. Nach jahrelangem Zögern und einem unbestimmten Angstgefühl hatte sie sich eines Tages entschlossen, nach Israel zu fahren, dem Staat der geretteten und überlebenden Juden aus aller Welt. Ihre gesamte Familie hatte der Holocaust dahingerafft, und sie fürchtete sich vor dem Besuch der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem und wußte zugleich, daß sie hingehen mußte und es sogar schon längst hätte tun sollen.
    Über der Stadt aus weißem Gestein, über den Fächerpalmen, den Synagogen, Kirchen und der goldenen Kuppel der dominierenden größten Moschee, über dem verwirrenden Nebeneinander (statt eines ausgewogenen Miteinander) von Juden, Christen und Arabern wölbte sich ein makellos tiefblauer Himmel, strahlte, wärmte und blendete überschwenglich die allen zugedachte Sonne. In den Gärten blühten Rhododendron und Bougainvilleen, in den engen Gassen der Altstadt mit den unzähligen kleinen Läden stand der köstliche Duft der feilgebotenen Gewürze. Ein Jubeltag.
    In der Nähe des Eingangs von Yad Vashem befindet sich die Gedenkstätte der toten Kinder. Man betritt einen völlig finsteren Raum, in dessen Mitte eine einzige Kerze brennt.Als sie sich ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt hatte, entdeckte Hanna, daß der Schein dieses einzigen Lichtchens, von unsichtbaren Spiegeln zurückgeworfen, da und dort in der Finsternis flackert, schüchtern, zitternd, wie die kurzen Leben der umgebrachten Kleinen, derer man hier gedenkt und deren Namen in endloser Folge von einer ruhigen Männerstimme in die Stille verlesen werden.
    Auf einmal wankte Hanna, es gab hier jedoch nichts, an dem man sich festhalten konnte.
    Ein Zufall wollte es, daß der nächste Tag gerade der war, an dem in Israel jedes Jahr der im Holocaust Ermordeten gedacht wird. Um zehn Uhr morgens erhoben sämtliche Sirenen im Staat ihre anklagenden Stimmen. In derselben Sekunde stand das ganze Land still. Die Busse und Autos auf den Straßen, die Maschinen in den Betrieben, die Menschen, wo immer sie sich befanden. Gedenkt unserer unschuldigen Toten! Ein Trauertag.
    Hanna stand auf einer Straße Jerusalems neben anderen bewegungslosen Menschen, fühlte sich bleischwer, hätte sich gar nicht rühren können. Ein paar Schritte weiter gab es einen Kinderspielplatz. Dort standen schweigend, fast kerzengerade, die kleinen Jungen und Mädchen, deren Namen nie mehr in einer Gedenkstätte zum Verlesen kommen dürfen.
    Auf den erstarrten Straßen mußten viele Männer und Frauen sicher daran denken, daß sie in jenen schwarzen Jahren in keine Parkanlage eintreten, zu Hause keinen Hund, ja selbst keinen kleinen Kanarienvogel haben durften, daß ihnen das Betreten von Kino und Theater, ja auch nur einer Straßenbahn verboten war. Sie waren zu Abschaum deklariert worden, zu Abfall, der industriell und technisch reibungslos liquidiert werden mußte. Und das ist auch millionenfach geschehen.
    In den Minuten trauernden Gedenkens im verstummten Staat Israel werden alljährlich all die in den Gasöfen vernichteten Wesen zurückgeholt in die Gemeinschaft der Menschen auf dieser Welt.
    Hanna merkte kaum, daß ihr Gesicht tränennaß war; Mutter, dachte sie, immer wieder Mutter, und auch daß die herzzerreißende Stille gleichfalls ihren beiden Schwestern galt und ihrem kleinen Neffen. Dann riefen die Sirenen die Menschen ins alltägliche Leben zurück.
    Genug. Hanna atmete tief die Stille im Kurpark und in ihrem Zimmer ein, hob beide Hände, dehnte und streckte sich, wurde allmählich ruhig und flüsterte sich schon im Eindämmern beschwichtigend zu: Spiel bitte einmal Sandmännchen, Hausengel, hilf mir, vernünftig zu sein. Man kann ja nicht vergessen, und deshalb sollte man von einer ländlichen Sirene nicht gleich die schicksalschwersten Bilder heraufbeschwören lassen. Wahrscheinlich brennt es irgendwo, und Leute wurden zum Löschen zusammengerufen. Ich aber bin zur

Weitere Kostenlose Bücher