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Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo

Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo

Titel: Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenka Reinerova
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Gehen zu lehren. Hinter einer Hecke verborgen, zog eine Frau begierig den Rauch einer Zigarette ein. Rauchen war hier streng verboten.
    Hanna sah sich nach einem freien Sitzplatz um. Nach einer kleinen Wanderung fand sie zwei nebeneinander gereihte Bänke unter einem blühenden Rhododendron. Auf der einen Bank saß ein Mann, die andere war leer. Wunderbar, freute sie sich und eilte hin. Als sie näher kam, prallte sie beinahe ein wenig zurück. Vor ihr saß ein Mensch mit einem halben Gesicht. Ein Auge war fast ganz weg, die Stirn auf einer Seite ausgehöhlt, die Wange häßlich vernarbt, der Mund verunstaltet. Der Mann wandte sich abrupt ab.
    Jetzt wußte sie, warum das magere Männchen eine seltsame Kopfhaltung hatte und die Bank neben ihm leer blieb. Sein Anblick war in der Tat beklemmend.
    Hanna riß sich zusammen und steuerte auf die leere Bank zu, von wo aus sie nur die intakte Gesichtshälfte zu sehen bekam.
    »So ein schöner Tag«, bemerkte sie, unbeholfen ein Gespräch versuchend.
    Der Mann schwieg, nickte nur.
    »Ich bin erst vor kurzem angekommen«, fuhr sie entschlossen fort. »Sie sind schon länger da? Ich hoffe, hier kann man sich wirklich erholen. Oder irre ich?«
    Er legte den Kopf zur Seite, zog die Schultern hoch und murmelte:
    »Es ist ganz gut hier, nur zu viele Leute. Ich muß schon gehen. Auf Wiedersehen.«
    Damit stand er auf und ging. Hanna sah ihm verstört nach. Aber nun hatte sie die beiden Bänke ganz für sich. Sie streckte und dehnte sich und schloß ein wenig dieAugen. Auf dem Kiesweg raschelte es leise. Als sie daraufhin die Augen wieder aufschlug, sah sie die Frau mit den beiden Krücken vom Nebentisch langsam herankommen.
    »Darf ich mich zu Ihnen setzen?«
    »Aber gern.«
    Erst schwiegen sie beide, lauschten dem Brummton einer emsigen Hummel, beobachteten zwei Spatzen, die in einer nahen Pfütze planschten. Allmählich, fast tropfenweise, kam zwischen den beiden Frauen ein Gespräch zustande.
    »Sind Sie schon lange hier?« Die übliche Eröffnungsfrage.
    »Nein. Erst einen Tag. Und Sie?«
    »Schon die zweite Woche. Aber erst jetzt beginne ich mich allmählich besser zu fühlen.«
    Hannas Gesprächspartnerin war von Beruf Postbotin, lief in einer Kleinstadt jahrelang mit ihrer Last bergauf, bergab. Ja gewiß, sie war mit einer Tasche auf Rädern ausgestattet, aber manchmal mußte man ein größeres oder auch schweres Kuvert oder ein dickes Päckchen unter den Arm nehmen; ganz jung war sie auch nicht mehr, und eines Tages ist sie zusammengebrochen. Ermüdetes Herz, lautete die Diagnose. All das erzählte sie sachlich und ohne den geringsten Anflug von Jammer oder Selbstmitleid.
    »So bin ich also hier gelandet, und wenn alles gutgeht, möchte ich bei der Heimreise die Krücken im Koffer verstauen. Das mußte ich meinem Mann versprechen.«
    »Die Krücken?«
    »Na ja, die hat mir die Arthrose verschafft.«
    Hanna hörte dem ruhigen Erzählen der Frau zu und schämte sich ein bißchen, bei ihrer Ankunft so nervös und ungeduldig gewesen zu sein.
    »Ehe Sie zu mir auf diese Bank kamen«, sagte sie nach einer Weile, »saß ein böse verunstalteter Mann hier. Wissen Sie vielleicht, was dem Armen zugestoßen ist?«
    »Ach, der Mann mit dem halben Gesicht«, rief die Frau aus. »Der Unglückliche war in einer Marmeladenfabrik beschäftigt, und eines Tages ist dort ein Kessel explodiert,und ihn hat es erwischt. Ich habe mich drüben ein bißchen gesonnt und habe gesehen, daß Sie sich zu ihm gesetzt haben. Da war ich froh, weil ihm die Menschen meistens ausweichen. Es ist ja auch kein schöner Anblick, der Mann weiß das natürlich und muß schrecklich verzweifelt sein.«
    »Kann ihm die Kur hier helfen?«
    »Ja doch. Er hat ein angegriffenes Herz, was nicht erstaunlich ist. Aber sein Gesicht bleibt schon so. Angeblich ist da nichts zu machen, weil zu viel ganz weg ist.«
    Am Abend in ihrem Zimmer ohne Telefon und Klingel, aber mit einem großen Spiegel an der Wand, betrachtete sich Hanna eingehend. Um die Augen zeigten sich kleine Fältchen, um den Mund schon schärfere, auf der Stirn stand eine unübersehbare Furche. Aber noch war, was sie da sah, nicht zum Wegschauen. Es war ein ganzes Gesicht mit lebendigen Augen und einem Mund, der gern lachte. Mit einem nur halben Gesicht mußte das Leben sehr schwierig sein.
    Die Atmosphäre an ihrem Tisch in dem großen Speisesaal änderte sich ohne Hannas Zutun merklich. Von einem Tag zum anderen wurde sie von ihren Eßkollegen nicht nur zur

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