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Zu keinem ein Wort

Titel: Zu keinem ein Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lutz van Dijk
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nicht mehr sehen sollten.
    Am nächsten Morgen wurden wir dann von mehreren
Erwachsenen, darunter Onkel Isidor, Tante Ella und Mutter, zum Bahnhof gebracht. Die meisten Kinder, auch Jutta, waren ausgelassen und lachten übermütig. Ich trottete schweigend mit und ließ den Kopf hängen. Eine gewaltige Traurigkeit hatte mich ergriffen und ließ mich nicht mehr los. Unser Zug wartete auf einem der hinteren Gleise. Mehrere Abteile waren nur für uns Kinder reserviert. Kaum hatten wir unsere wenigen Gepäckstücke auf den Sitzen verteilt, kamen ein paar SA-Leute in den Wagen und versuchten, uns Angst einzujagen, indem sie alles besonders streng kontrollierten. Aber weil wir von der Königin eingeladen worden waren und das auch durch einen Brief beweisen konnten, hielten sie sich zurück. Außerdem waren wir nur Kinder. Alle Erwachsenen aus dem Heim standen auf dem Bahnsteig und schauten zu uns hinauf.
    Dann gab es irgendeine Verzögerung und wir durften noch mal aussteigen. Erst jetzt fiel mir auf, dass meine ältere Schwester Hanna gar nicht zum Abschied gekommen war. Viele Jahre später berichtete sie mir, dass sie einfach zu traurig gewesen sei und sich währenddessen im Heim auf dem Klo eingeschlossen und dort die ganze Zeit geweint hatte, bis Mutter wieder zurück war. Auf dem Bahnsteig liefen alle Kinder noch mal zu den verschiedenen Erwachsenen, die ihnen besonders viel bedeuteten. Ich rannte immer zwischen Mutter und Tante Ella hin und her. Zu Mutter sagte ich: »Grüß Hanna von mir!« Und Tante Ella rief ich zu: »Bitte, grüß Edith!«
    Schließlich mussten wir alle wieder einsteigen. Ganz schnell sollte es nun gehen. Irgendein Bahnbeamter
schloss die Wagentür von außen ab. Ein Pfeifen war zu hören. Dann setzten sich die Räder der Eisenbahn schrill quietschend in Bewegung. Die meisten Kinder sprangen auf und drängelten sich vor den Fenstern. Sie winkten und schrien, manche lachten und ein paar heulten plötzlich doch noch... Ich blieb wie erstarrt auf meinem Platz sitzen. Ich schaute nur vor mich hin und sagte kein Wort. Mir fiel ein, dass ich vergessen hatte, auch meinen kleinen Bruder Jossel von Mutter grüßen zu lassen. Ich schämte mich dafür. Aber nun war es zu spät. Für alles war es nun zu spät, dachte ich und war unendlich traurig.
    Jutta blieb zum Glück die meiste Zeit guter Dinge. Sie spielte mit ihren Freundinnen und fand, wie ich merkte, während der Bahnfahrt sogar ein paar neue. Ich war froh, als sich nach einer Weile Lotte und Kurti zu mir ins Abteil setzten. Sie respektierten meine Traurigkeit. Ich habe später oft gehört und gelesen, dass alle Flüchtlingskinder bestimmt immer froh und erleichtert sein müssen, wenn sie aus einem für sie bedrohlichen Land entkommen konnten. Für mich bedeutete der Abschied zunächst nur Schmerz und Angst. Ich fühlte keinerlei Erleichterung oder Freude.
    Das einzig Schöne auf dieser Fahrt kam von Kurti. Obwohl wir nicht viel redeten, spürte ich, dass er mich mochte. Als wir über die holländische Grenze gefahren waren, schenkte er mir eine Tüte mit selbst gebackenen Keksen, die er aus Frankfurt mitgenommen hatte. Von Lotte wusste ich, dass es seine Lieblingskekse waren. Und er gab sie mir einfach so!
    Ich nahm mir vor, ganz sparsam mit diesen Keksen
umzugehen. Sie schmeckten ungewöhnlich gut. Selbst Jutta gab ich höchstens einen Keks am Tag ab. So hatte ich noch welche, nachdem wir schon eine ganze Zeitlang in Holland waren.
    Â 
    Den Empfang am Hauptbahnhof von Utrecht, wo wir am späten Nachmittag endlich ankamen, habe ich als kalt und unfreundlich in Erinnerung. Wahrscheinlich hatte sich niemand etwas Böses dabei gedacht, aber von den Erwachsenen, die uns dort in Empfang nahmen, sprach niemand ein persönliches Wort zu uns. Jedenfalls verstand ich nichts, denn es wurde nur Holländisch gesprochen. Irgendwann kapierten wir, dass wir unsere Vor- und Familiennamen sagen sollten. Daraufhin bekam jeder von uns ein Pappschild mit dem Namen einer Stadt um den Hals. Auf dem Schild von Mosche, Lotte und Kurti stand »Utrecht«. Bei Jutta und mir lasen wir »Amsterdam«.
    Und dann ging jeweils ein Erwachsener mit den Kindern, die in eine bestimmte Stadt sollten, davon. Ich hatte nicht mal Zeit, mich richtig von meinen Freunden zu verabschieden. Ich rief noch die Namen von Lotte und Kurti, aber da waren sie schon eine

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