Zu keinem ein Wort
konnte als all die Schnörkel, die es früher immer gegeben hatte. Suzy und ich waren vor allem von den groÃen Rolltreppen begeistert. So etwas hatten wir noch nicht gesehen. Nachdem der Vortrag bei den Küchenmöbeln beendet war, rannten wir sofort wieder zu den Rolltreppen und liefen sie am allerliebsten in entgegengesetzter Richtung hinauf oder hinunter.
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Auch im Waisenhaus gewann ich Freundinnen, seit ich nicht mehr so ernst und verschlossen war. Ein Mädchen, das Lena hieà und eine groÃe Brille trug, wich mir nicht mehr von der Seite. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte der Vater sie ins Waisenhaus gebracht. Sie war nicht so beliebt wie Suzy, aber das machte mir nichts aus. Ihr Vater wohnte in Amsterdam und eines Samstags lud sie mich ein, mit zu ihr nach Hause zu kommen.
Wir liefen vom Waisenhaus bis zur Wohnung ihres Vaters. Das war nicht sehr weit weg von der Rapenburgerstraat. Die Umgebung des Heims war schon viel ärmlicher, als ich es von Frankfurt her kannte. Aber solche Armut wie bei Lena daheim hatte ich mir bisher nicht einmal vorstellen können. Schon in der StraÃe vor dem heruntergekommenen Mietshaus, in dem die Tür schief in den Angeln hing, spielten Kinder in abgerisse-nen
Sachen. Alles roch auf eigenartige Weise muffig und verfault. Die Wohnung selbst war dunkel und klein, dennoch wurde ich von Lenas Vater und seiner Freundin, einer Christin, herzlich empfangen. Ihr Vater sagte: »Noch nie hat Lena jemanden aus dem Heim mitgebracht. Willkommen, Cilly!«
Von links: Cilly, Jutta und Lena. Das Foto bekam Cilly von Lena am 31. August 1939 geschenkt. Auf der Rückseite stand: »Von deiner treuen Freundin Lena.« Einen Tag danach begann der Zweite Weltkrieg, der alles, aber auch alles, verändern sollte.
Dann gab er mir und Lena Saft zu trinken. Ich spürte, dass Lena sich schämte wegen der Armut und gleichzeitig stolz war, dass ich hier war. Ich hatte das Foto von meiner Mutter mitgenommen und der Mann und seine Frau betrachteten es ehrfürchtig.
»Was für eine vornehme Dame ist deine Mutter«, brummte Lenas Vater und bot mir etwas ausgetrocknete Plätzchen aus einer Blechdose an.
»Ja«, sagte ich. »Aber reich ist sie nicht. Mein Vater hat alles verloren, bevor er gestorben ist.«
»Ach Kind«, sagte die Frau, die nicht Lenas Mutter war, freundlich. »Dann hast du es ja auch nicht leicht gehabt in deinem Leben, was?«
Darauf wusste ich nichts zu sagen, weil ich es selbst nie so ausgedrückt hätte. Etwas verlegen fragte ich: »Haben Sie die Plätzchen gebacken? Sie schmecken gut!« Das stimmte zwar nicht, aber ich wollte auch etwas Nettes sagen.
»Ja«, antwortete sie. »Freut mich, dass du sie magst. Ich packe euch nachher den Rest ein. Den könnt ihr dann mitnehmen.«
Als wir am frühen Abend zurück ins Heim gingen, spürte ich, dass Lena hören wollte, wie es mir gefallen hatte. Ich sagte: »Dein Vater ist nett und seine Frau auch.«
»Kommst du mal wieder mit?«
»Na klar!«, entgegnete ich. Lena strahlte, als hätte ich ihr ein besonderes Geschenk gemacht. Die Plätzchen haben wir dann aber nicht mehr gemeinsam aufgegessen. Lena fand sie auch zu trocken. Sagte sie jedenfalls.
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Einen Tag später musste ich bei Juffrouw Roet, die ich noch viel weniger als anfangs die Direktorin mochte, âºauf der Matteâ¹ erscheinen.
»Cilly!«, rief sie verärgert, kaum hatte ich die Tür ihres Zimmers hinter mir geschlossen. »Wieso gehst du mit Lena nach Hause?«
»Wieso denn nicht?«
»Na, sag mal, hast du keine Augen im Kopf? Diese Lena und ihr Zuhause sind kein Umgang für dich.«
Natürlich wusste ich längst, was sie damit sagen wollte. Aber ich fand es gemein, wie sie über Lena redete. Was konnte Lena denn für ihr Elternhaus? Also stellte ich mich dumm und fragte erneut: »Aber wieso soll ich denn nicht mit ihr nach Hause gehen? Ihr Vater ist sehr freundlich zu mir gewesen.«
Da explodierte sie und rief: »Du bist dumm wie Ãl, Cilly - dumm wie Ãl! Der Mann lebt wild mit einer... mit so einer Frau zusammen! Das ist doch kein Umgang!« Sie schnaubte noch eine Weile vor sich hin. Ich sagte nichts mehr und irgendwann durfte ich gehen. Ich beschloss, trotz allem gegenüber Lena mein Wort zu halten.
Leider konnten Rosa und Suzy mit Lena nicht viel anfangen. Sie fanden sie anbiedernd, weil sie niemals eine eigene
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