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Zu keinem ein Wort

Titel: Zu keinem ein Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lutz van Dijk
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Palästina. Aber irgendso ein Kerl aus Berlin hat erklärt: ›Die beiden sind ja in Holland in Sicherheit.‹ Kannst du das fassen? Die haben uns einfach von der Liste gestrichen!« 8 Mit einem Mal war jede Hoffnung zerstört. Bisher hatte ich alle Schwierigkeiten ertragen, in der festen Hoffnung, dass wir am Ende zusammen nach Palästina gehen könnten.
    Â»Und Mama und Jossel?«, fragte Jutta.
    In dem Moment, als sie dies fragte, fiel ein Foto aus dem Umschlag, das ich in meiner Aufregung übersehen hatte. Es flatterte in sanftem Bogen auf die Pflastersteine. Jutta war schneller als ich und hob es auf: »Schau mal!« Ein ganz neues Foto von Mutter und Jossel, wahrscheinlich erst vor wenigen Tagen aufgenommen. Jossel musste schon wieder ein ganzes Stück gewachsen sein, die Ärmel seiner Jacke waren ihm viel zu kurz geworden.
    Noch einmal las ich den ganzen Brief. Ich las ihn laut vor, Wort für Wort. Mutter schrieb, dass sie Hanna und die gesamte Mädchengruppe bis nach Wien hatte begleiten dürfen, von wo aus Hanna und die Mädchen bis zum italienischen Hafen von Triest weiterreisen sollten, um dort das Schiff nach Haifa, der palästinensischen Hafenstadt, zu nehmen. In Wien hatte Mutter sich mit ihren Eltern treffen können und fuhr danach allein zurück nach Frankfurt. Es war um nichts in der Welt möglich gewesen, auch Zertifikate für Jossel und sie selbst zu bekommen. Über die neue Situation in den Niederlanden schrieb sie wenig. Am Ende standen die Worte: »Ich weiß nicht, wann wir uns wieder sehen können. In Liebe, eure Mama.«

    Cillys Mutter (38) mit dem zehnjährigen Jossel in Frankfurt im Sommer 1940. Das letzte Foto...

    Als ich geendet hatte, liefen uns beiden die Tränen übers Gesicht. Jutta hielt das Foto von Jossel und Mutter in ihrer einen Hand, mit der anderen hielt sie sich an einem Zipfel meines Kleides fest. Wie ein Blitz durchfuhr mich die Erkenntnis, dass wir von nun an ganz allein auf uns gestellt waren. Es gab zwar noch Tante Meta in Amsterdam, aber die war alt und krank und würde bald selbst Hilfe brauchen. Ich spürte, dass ich allein die Verantwortung für meine kleine Schwester würde tragen müssen, wenn wir diese wahnsinnige Zeit überleben sollten. Ganz allein. Ich würde ab jetzt erwachsen sein. Immerhin war in wenigen Wochen mein fünfzehnter Geburtstag. Wir würden es schaffen. Hanna war in Sicherheit. Mutter würde für Jossel sorgen und ich musste alles tun, damit Jutta nichts geschah. Dann würden wir eines Tages alle wieder zusammen sein. Ganz bestimmt, eines Tages. Wir vier Kinder und Mutter. Bestimmt...
    Die nächsten Wochen war ich so niedergeschlagen, dass nicht einmal Suzy mich aufmuntern konnte. Immerhin konnten wir weiter zur Schule gehen und dort blieb es trotz allem schön. Unsere Lehrerinnen, auch die christlichen, ließen uns spüren, dass sie bereit waren, zu uns jüdischen Mädchen zu halten. Besonders Juffrouw Ouweleen und Juffrouw Hoefsmit, die beiden Freundinnen, machten keinen Hehl daraus, dass sie den Judenhass der Deutschen schrecklich fanden. »Das machen wir hier nicht mit«, sagte Juffrouw Hoefsmit einmal entschlossen vor der ganzen Klasse. »Alle Menschen sind gleich geboren!«
    Suzy, Rosa und ich schauten uns still an. Es tat gut,
solche Worte zu hören. Die beiden Lehrerinnen waren höchstens Anfang Dreißig. Besonders Juffrouw Hoefsmit himmelte ich eine Weile förmlich an, sodass Suzy schon gefragt hatte, ob ich in sie verliebt sei. Es klang nicht spöttisch und ich zuckte nur die Schultern. Ich wusste noch nicht, was Liebe ist, aber ich sehnte mich nach einem Menschen, den ich bewundern konnte - und Bewunderung fühlte ich für Juffrouw Hoefsmit.
    Â 
    Ab Anfang 1941 erließ die deutsche Besatzungsmacht in Holland mehr und mehr Vorschriften, um die Juden von der übrigen Gesellschaft zu isolieren. Zuerst waren, wie schon nach 1933 in Deutschland, alle jüdischen Beamten aus dem niederländischen Staatsdienst entlassen worden, bald durften jüdische Künstler nicht mehr frei auftreten und jüdische Ärzte keine Christen mehr behandeln. Nun, ab Januar 1941, mussten wir uns registrieren lassen, damit die Deutschen genau wussten, wo Juden lebten und wo nicht. Viele, die bisher nicht in den jüdischen Vierteln gewohnt hatten, wurden gezwungen, dorthin umzuziehen. In unserer Gegend, vor allem rund um den nahe

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