Zu keinem ein Wort
Deutschland!« Jutta, die ebenfalls die Augen geschlossen hatte, schüttelte ich sanft an der Schulter: »Wir müssen nach Palästina, Jutta!« Sie lehnte sich an mich und fragte im Halbschlaf zurück: »Jetzt gleich?«
SchlieÃlich ging ich zu Frau Roet und erzählte ihr, dass Jutta und ich bereits in Frankfurt auf einer Liste zur Auswanderung nach Palästina gestanden hatten. Dass dann der Brief der Königin gekommen war und wir erst mal hierher geschickt wurden. Ich sagte, wenn sie jetzt schnell mit meiner Mutter Kontakt aufnehmen würde, dann könnte es vielleicht gerade noch klappen.
»Nun beruhige dich erst mal, Cilly«, antwortete Frau Roet. Sie selbst hatte inzwischen ihre Haltung wieder gefunden und war dabei, ihr Haar mit Nadeln aufzustecken. »Im Moment können wir gar nichts machen. Lass uns erst mal die Nachrichten abwarten, um zu hören, was genau geschehen ist.«
Doch die Nachrichten wurden stündlich schlechter. Die Deutschen hatten offensichtlich eine Offensive nicht nur gegen die Niederlande begonnen, sondern auch gegen
Belgien und Frankreich. Und sie schienen mit jeden Tag weiter vorzurücken und zu siegen.
Am vierten Tag, dem 13. Mai, kam die Meldung, dass sich Königin Wilhelmina mit ihrer Familie ins Exil nach England gerettet hatte. Was für ein Schock! Hatte selbst die Königin schon ihr Land aufgegeben? Und bedeutete das nicht auch, dass ihr Brief, der uns doch bisher in gewisser Weise geschützt hatte, nun nichts mehr wert war? Im Waisenhaus herrschte gedrückte Stimmung. Zwei Leute vom Vorstand des Waisenhauses waren plötzlich nicht mehr da. Es hieÃ, auch sie seien vor den deutschen Soldaten geflüchtet. Der Vorstandsvorsitzende, ein älterer Herr, den ich nie gesehen hatte, sollte Selbstmord begangen haben. In den StraÃen unseres Viertels sahen wir Menschen ihre Habe auf Lastwagen laden und damit zum Hafen fahren. Ob bei der Kriegslage aber überhaupt noch Fährschiffe nach England fahren würden?
Schon einen Tag später wurden die schrecklichsten Befürchtungen Wirklichkeit: Die deutsche Wehrmacht marschierte in Amsterdam ein, während über den Dächern deutsche Flugzeuge bedrohlich laut Richtung Westen flogen. An diesem Tag lieÃen sie ihre grausame Ladung über dem dicht bewohnten Zentrum Rotterdams fallen und töteten innerhalb weniger Stunden über neunhundert Kinder, Frauen und Männer. Der Krieg in den Niederlanden war vorbei. Am 15. Mai kapitulierten die Niederlande vor der militärischen Ãbermacht. Ãberall auf den StraÃen Amsterdams sah man plötzlich deutsche Soldaten, sichtlich zufrieden, dass der Sieg so leicht errungen war. An einigen Häuserwänden erschienen
Anschläge der deutschen Besatzer, meist zweisprachig in Deutsch und Holländisch. Sie informierten die Bevölkerung, was erlaubt und was verboten war. Viele Soldaten waren noch sehr jung. Einigen sah man an, dass sie gern freundlich sein wollten. Ich traute mich kaum aufzuschauen. Wie lange würde es dauern, bis sie Jutta und mich als jüdische Mädchen erkennen würden?
Um alles in der Welt wollte ich wissen, wie es Mutter, Hanna und Jossel in Frankfurt ging. Was für Gedanken sie sich um uns machten. Ob wir nun vielleicht bald wieder zusammen kämen? Aber durch die Kriegslage gab es eine Weile keine Post und ein Telefon war etwas ganz Ungewöhnliches. Endlich wurden wieder Briefe ausgeliefert. Aber noch immer keine Nachricht von Mutter. Mehrere Wochen vergingen, dann plötzlich drückte mir Frau Vromen, die inzwischen mit ihrem Mann ins Waisenhaus gezogen war, um die alte Direktorin zu entlasten, einen Brief mit einer Hitler-Marke drauf in die Hand. Mir zitterten vor Aufregung die Hände, als ich den Umschlag aufriss und die Zeilen überflog. Was für Nachrichten! Ich hielt das Papier einen Moment an mein Herz gepresst und rannte dann, so schnell ich konnte, in den Hof zu Jutta, die dort mit einer Freundin spielte. Schwer atmend stand ich vor ihr und rief: »Jutta, stell dir vor - Hanna ist in Palästina!«
Jutta wusste nicht, ob sie sich darüber freuen sollte. Zwar hatten wir immer alle nach Palästina gewollt, aber doch nur gemeinsam. Und sie sah mein trauriges Gesicht. »Warum schaust du so?«, fragte sie unsicher.
»Weil wir jetzt auch dort sein könnten, du und ich. Wir standen auf der Liste und hatten ein Zertifikat zur
Einreise nach
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