Zu keinem ein Wort
würden wir endlich wieder zusammen sein mit Mutter, Jossel und Hanna - und mit Edith.
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Am Abend konnte ich lange nicht einschlafen. Ich hörte, wie sich manche Mädchen unruhig in ihren Betten herumwarfen. Einmal erschrak ich, weil ich die Umrisse einer dunklen Gestalt durch unseren Saal schleichen sah. Dann hörte ich Schlüssel klappern und wusste, dass
es eine der Erzieherinnen sein musste, die wohl kontrollierte, ob wir alle in unseren Betten lagen. Im Magen spürte ich ein eigenartiges Drücken, wie ein Stein, der sich nicht bewegen lieÃ. Erst dachte ich, es seien nur Bauchschmerzen von dem fürchterlichen Essen. Aber dann spürte ich den Schmerz auch in der Brust. Es waren keine körperlichen Schmerzen. Ich hatte einfach schreckliches Heimweh nach Frankfurt, nach dem Heim dort, nach Mutter und Jossel, nach Edith, ja sogar nach Hanna.
Das Heimweh machte mir auch in den nächsten Wochen zu schaffen. Jeden Tag wurde ich stiller und zog mich mehr in mich zurück. Zum Glück fand Jutta es hier deutlich besser als ich. Es fiel ihr so viel leichter, sich anzupassen, bald sprach sie die ersten Sätze Niederländisch. Als wir schlieÃlich doch wie alle anderen die grau-schwarzen Uniformen tragen mussten, freute sich Jutta darüber, während ich diese altmodischen Kleider und Strümpfe hasste und noch mutloser wurde, weil ich fürchtete, dass man uns jetzt von der Liste für Palästina gestrichen haben könnte.
Oft beherrschte mich das Gefühl, einfach alles falsch zu machen. Und es ärgerte mich, dass im Heim beinah immer alles abgeschlossen war. Die Erzieherinnen hatten so viele Schlüssel für sämtliche Türen und Schränke, dass es dafür eigene so genannte âºSchlüsselkörbchenâ¹ gab, die sie meistens mit sich herumschleppten. Ich kam mir vor wie im Gefängnis. Natürlich hatten wir Mädchen selbst keinen Schlüssel für den einzigen kleinen Holzschrank, in dem wir unsere persönlichen Dinge aufbewahren konnten. Diese Schränkchen wurden
regelmäÃig kontrolliert, genau wie alles andere. Nichts gab es nur für einen selbst. Nirgends.
Sogar die Post wurde überwacht. Jeder Brief, den wir nach Hause schrieben, wurde erst von der Direktorin gelesen. Wenn ihr etwas nicht gefiel, musste das neu geschrieben werden. Erst dann klebte sie die Briefmarke darauf. Darüber war ich so böse, dass ich einmal eine Postkarte an meine Mutter schickte, für die ich heimlich eine Briefmarke kaufte. Ich schrieb, dass ich sie ganz schrecklich vermisste. Eine Weile danach kam ein Foto von Mutter, das sie vor dem Eingang des Heims am Röderbergweg zeigte. Sie ging nicht weiter ein auf mein Klagen, sondern hatte nur auf die Rückseite notiert: »Für Cilly und Jutta - zum Andenken an eure Mama. Januar 1939.« Ich weinte und vermisste sie noch viel mehr.
Dafür, dass hier insgesamt alles ärmer war, konnte natürlich niemand etwas. Wir hatten ja auch nicht gerade viel aus Frankfurt mitgebracht. So verdienten die Erzieherinnen sicher hier auch nur einen Hungerlohn. Aber einmal sollte ein offizielles Foto von uns im Speisesaal gemacht werden. Dafür wurde der Tisch erst ganz toll gedeckt, sogar Eierbecher standen da mit richtigen Eiern darin. Die waren aber gar nicht gekocht. Und als der Fotograf gegangen war, wurden die Eier wieder eingesammelt und wir konnten gehen. Darüber war ich gleichzeitig traurig und wütend. Ich bewunderte Rosa, die nie aufgab und nur trocken meinte: »Daher kommt der Spruch: Friede, Freude, Eierkuchen!« Mir selbst fiel nie etwas ein, um mich oder andere aufzumuntern.
Meine traurige Grundstimmung hellte sich erst etwas
auf, als Jutta und ich uns an Tante Meta erinnerten und an einem Samstag, an dem wir âºfreiâ¹ hatten, beschlossen, sie zu besuchen. Wir gaben vorher genau ihren Namen und ihre Anschrift an und durften dann losziehen. Die Keizersgracht liegt in der Innenstadt und war vom Heim aus zu Fuà zu erreichen. Eine Erzieherin erklärte uns den Weg.
Zum Glück war Tante Meta zu Hause. Es dauerte eine Weile, bis sie zur Tür ihrer Wohnung geschnauft kam, die im Parterre lag.
»Nein, ist das schön! Die Levitus-Mädchen, kommt rein!«
Tatsächlich bewohnte sie nur ein winziges Zimmer, das voll gestopft war mit Möbeln, die offenkundig alle mal bessere Zeiten gesehen hatten. Sie berichtete, dass sie seit dem Tod ihres Mannes nur noch ab und
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