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Zu keinem ein Wort

Titel: Zu keinem ein Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lutz van Dijk
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weiß nicht mehr, wie spät es genau war, aber ich wurde wach, als plötzlich jemand meinen Namen rief: Jutta war frei und stand ganz allein vor mir, ohne Gepäck, aber offenkundig unversehrt, nur etwas durcheinander.
    Â»Jutta!« Wir umarmten uns und liefen dann schnell in mein kleines Zimmer. Dort berichtete sie mir, was geschehen war: »Ich schaute eine Weile gedankenverloren auf die Bühne, als ein Mann dort erschien und ausrief: ›Wo ist das Mädchen Jutta?‹ Wie im Traum stand ich auf und hob meine Hand. Der Mann kam auf mich zu und sagte: ›Lass dein Gepäck auf dem Sitz liegen!‹ Dann sollte ich einfach hinter ihm hergehen. Als wir uns dem Ausgang näherten, spürte ich, dass es nun gefährlich wurde. Da standen zwei Uniformierte mit geschultertem Gewehr. Aber zum Glück hatten sie uns den Rücken zugewandt.« 18
    Â»Und dann?«
    Â»Dann gab mir der Mann plötzlich einen Wink und ich lief allein über die Straße hierher zur Crèche . Da ich wusste, dass abends der Haupteingang abgeschlossen ist, bin ich gleich hintenrum gelaufen. Hier hätte ich
sonst versucht, nach dir zu rufen. Aber die Seitentür war offen und da bin ich einfach rein.«
    Jutta holte tief Atem. Ich bemerkte auf einmal, dass meine ›kleine‹ Schwester viel älter und reifer geworden war. Bald war sie fünfzehn, älter als ich gewesen war, als wir Frankfurt vor über vier Jahren hatten verlassen müssen. Ich dachte an Mutter und Jossel, von denen wir schon so lange getrennt waren.
    Â»Jutta, ich habe schon mit Jakov versucht, einen Schlafplatz für dich zu finden, aber...«
    Da unterbrach sie mich und zeigte ein weiteres Mal, wie sehr sie in den letzten Jahren gelernt hatte, selbst Verantwortung zu übernehmen: »Cilly, ich kann sicher die nächsten Tage mit zu Connie Lehmanns Familie. Connie ging doch mit mir in die gleiche Klasse und sie hat ihre Eltern bereits gefragt - für alle Fälle.« Ich war stolz auf meine gar nicht mehr so kleine Schwester.
    Auch Jakov traf nun konkrete Vorbereitungen für sein eigenes Untertauchen. Beinah jedes Mal, wenn wir uns trafen, diskutierte er mit mir darüber: »Cilly, wir müssen uns falsche Papiere besorgen, solange das zumindest für Geld überhaupt noch möglich ist.«
    Â»Was kostet das?«
    Â»Zurzeit zwischen dreihundert und fünfhundert Gulden.«
    Â»Und wovon willst du das bezahlen? Wir haben doch keinerlei Ersparnisse.«
    Â»Es gibt immer Wege...«, meinte er, aber es klang nicht sehr überzeugend.
    Ein anderes Mal meinte er: »Du gehst nur nicht, Cilly, weil du denkst, du kannst die Babys hier nicht im
Stich lassen. Aber das ist verrückt: Wenn alle sterben müssen, warum dann die Säuglinge besonders bemitleiden?« Ich war erschrocken über seine harte Haltung. Was machten diese Zeiten mit uns? Würden wir, wenn einmal alles vorbei sein würde, überhaupt noch Menschen sein?
    Â 
    Die nächste wirkliche Gefahr hatte jedoch Jakov durchzustehen. Als er nach einer der großen Razzien im Juni 1943 eine Weile nicht mehr auftauchte, befürchtete ich das Schlimmste. Angeblich hatte man die gesamte Stra ße, in der er noch immer bei der Familie Granaat wohnte, ›abgeholt‹. In meiner Angst ging ich schließlich selbst zu Juffrouw Ouweleen und Juffrouw Hoefsmit in die Botticellistraat, um sie um Rat zu fragen.
    Als Erstes sagte Juffrouw Ouweleen zu mir: »Cilly, wir müssen dich um etwas bitten. Mit wem du auch immer redest: Ich bin ab sofort Tante Cok und Marie ist Tante Mies. Benutz nie mehr unsere richtigen Namen!«
    Ich wusste nicht genau, wie viele Kinder sie bei sich in der kleinen Wohnung in der Botticellistraat, nur wenige Schritte von der Euterpestraat und dem Geheimdienst der Deutschen entfernt, versteckten. An diesem Nachmittag schien alles leer. Über Jakov konnten sie zunächst nichts sagen. Razzien von diesem Umfang hatte es bisher nicht gegeben. Wenn das so weiterging, brauchte man bald keinen Jüdischen Rat mehr, da dieser niemanden mehr zu betreuen und zu verwalten hätte.
    Es war an einem Abend nach der Arbeit, an dem ich gerade überlegt hatte, noch mal in die Botticellistraat zu
gehen, als auf etwa halbem Wege dorthin plötzlich jemand hinter einem Baum hervorsprang und sich breitbeinig vor mich hinstellte - Jakov! Er sah unversehrt aus, ja schien beinah ausgelassen zu sein: »Na, Cilly, fällt

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