Zu keinem ein Wort
dir was auf?«
Ich starrte ihn einen Moment verblüfft an, bemerkte aber keinen Unterschied zum letzten Mal, als ich ihn gesehen hatte. Erst mal fiel ich ihm um den Hals und er drehte mich übermütig in der Luft. Als er mich wieder abgesetzt hatte, sagte er mit gesenkter Stimme: »Ich bin übers Dach getürmt.« Er sah sich prüfend um, aber niemand schien uns zu beachten. Dann schob er mich ein wenig auf Abstand und fragte erneut: »Nun guck doch mal! Merkst du immer noch nichts«? Ich schüttelte erneut den Kopf.
Da schlug er sich mit der Hand auf die Brust und nun erst sah ich, dass er keinen Stern mehr trug.
»Jakov, hast du etwa...?«
»Nicht mehr Jakov, bitte. Ich bin ab sofort Jan Gerrit Overbeek, geboren 1926 in den Niederlanden.«
»Oh, dann bist du jetzt ja ein Jahr älter!«, war das Erste, was mir einfiel.
»Cilly, es ist ein unglaubliches Gefühl, sich wieder frei bewegen zu können.«
»Hast du denn keine Angst, dass es auffliegen könnte?«
»Jedenfalls weniger als vorher, als jeder auf uns spucken konnte wegen des gelben Lappens auf der Brust.«
Er musste gleich wieder weg, rief mir aber noch beruhigend zu, dass er schon ein neues Quartier habe und sich bald wieder melden würde.
Von nun an überschlugen sich die Ereignisse. Zuerst verlor Jutta erneut ihren Schlafplatz und wir wussten uns keinen andern Rat, als nun doch Tante Cok und Tante Mies direkt zu bitten, auÃerhalb Amsterdams etwas für sie zu finden. Vorläufig durfte Jutta zu ihnen in ihre winzige Wohnung in die Botticellistraat kommen. Sie nahmen sie auf, ohne weitere Fragen zu stellen. Die Frauen hatten wirklich Mut.
Am gleichen Abend hörte ich eine Kollegin in der Crèche über die Zustände in Westerbork reden: »Es ist unglaublich, so ein Dreck, so ein Chaos! Die Toiletten stinken und das Essen ist hundsmiserabel. Oft werden Kinder und Eltern auseinander gerissen. Selbst wir Kinderpflegerinnen werden willkürlich von den Kleinen getrennt. Ich kann euch nur eines sagen: Wer da einmal gelandet ist, für den ist es zu spät!«
Eigenartigerweise berührten mich ihre Sätze auf einmal stärker als Jakovs geduldige Ãberzeugungsarbeit bisher. Lange konnte ich an diesem Abend nicht einschlafen und sah immer neue Schreckensbilder eines Lagers vor mir, in dem Menschen schlimmer als Tiere gehalten und Kinder von ihren Eltern weggerissen wurden.
Als Jakov am nächsten Nachmittag vorbeikam, sagte ich nur: »Ich mache mit, Jakov. Kannst du mir helfen, an gefälschte Papiere zu kommen?«
UNTERGETAUCHT
Jakov nickte: »Lass uns gleich an die Vorbereitung gehen.« Obwohl er erst sechzehn Jahre alt war, schien er genau zu wissen, was zu tun war: »Ein Freund von mir kennt sich aus, wie das mit den Fingerabdrücken geht, und er wird ein aktuelles Passfoto von dir machen.«
Noch am gleichen Abend gingen wir zu diesem Freund von Jakov, der eine illegale Werkstatt in einem Keller in der Nähe des Waterloopleins hatte. Da Jakov keinen Stern mehr trug, gingen wir nicht als Liebespaar, sondern hielten Abstand, so als würden wir uns nicht kennen. Jakov nannte den Namen seines Freundes nicht, sondern sprach von ihm nur als âºder Künstlerâ¹.
Alles ging sehr schnell, und ohne viel gesprochen zu haben, standen wir schon wieder auf der StraÃe. Dort trennten wir uns, da Jakov noch eine andere Verabredung hatte, von der er mir erst morgen berichten wollte.
Â
Als er am nächsten Tag zur gewohnten Zeit nicht erschien, begann ich sofort, mir Sorgen zu machen. Wie sehr war Jakov an illegalen Aktivitäten beteiligt? Seit einer Weile schon hatte ich den Eindruck, dass er nicht
mehr wie früher offen über alles mit mir sprach. Vertraute er mir nicht? Oder wollte er mich nur schützen, falls irgendwo etwas auffliegen sollte? Vier bange Tage und Nächte vergingen. Dann kam er eines Abends plötzlich wie früher durch den Seiteneingang. Er lachte scheinbar unbeschwert und wollte, dass wir sofort in meine kleine Kammer gingen. Kaum war die Tür geschlossen, kramte er aus seiner Jackentasche einen Briefumschlag und holte eine Karte daraus hervor, die er mir stolz unter die Nase hielt: »Hier - das bist du ab jetzt!«
Ich drehte den Ausweis ins Licht, erkannte mein Foto auf einer Kennkarte ohne das J , das uns Juden sonst in die Pässe gestempelt wurde, und konnte erst dann meinen neuen Namen entziffern:
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