Zu Staub Und Asche
hatte, ihn herauszufordern. Aber möglicherweise wurde ja auch er eines Tages erwachsen.
Was Daniel anging, so hatte sie ihre Neujahrsvorsätze gefasst. Sie war entschlossen, sich seinetwegen nicht schuldig zu fühlen. Auch nicht wegen des Ausdrucks in seinen Augen. Dieser Blick war so eindringlich und so ungewohnt gewesen, dass sie eine Zeit lang gebraucht hatte, bis sie herausfand, was er bedeutete. Daniel hatte sie mit den Augen eines Mannes angesehen, der sich mit Leib und Seele nach ihr sehnte.
Als Hannah in Undercrag ankam, lag das Haus in völliger Dunkelheit. Sie stieg aus ihrem Lexus. Ein Fuchs huschte davon. Sie öffnete das Garagentor. Eine Eule schrie.
Marcs Auto war nicht da.
Hannah ging einmal in jeder Richtung die Straße entlang, um sicherzustellen, dass er nicht aus irgendwelchen Gründen vor den Ferienhäusern oder unter den Bäumen geparkt hatte. Aber das war natürlich nicht der Fall. Die Eingangstür des Hauses war abgeschlossen - ein sicheres Zeichen dafür, dass Marc sich nicht im Innern befand. Hannah sah in allen Zimmern im Erdgeschoss nach, ob er vielleicht eine Nachricht hinterlassen hatte. Es könnte ja sein, dass er zu später Stunde noch einmal losgefahren war, um besser nachdenken zu können.
Im Haus war es so kalt wie auf einem Friedhof. Die rohen Bodenbretter knarrten, und der Wind pfiff durch die Fenster, die noch auf eine Doppelverglasung warteten. Nur zwei Schlafzimmer waren überhaupt bewohnbar, an der Treppe fehlte das Geländer, und der erste Stock war eine Baustelle. Die Handwerker hatten nach den Feiertagen die Arbeit noch nicht wieder aufgenommen. Laut Mark gab es gewisse Unstimmigkeiten wegen einer überfälligen Bezahlung. Angeblich schuldete er den Leuten allerdings kein Geld, sondern behauptete, der Fehler liege bei der Kundenbetreuung.
Trotzdem wollte Hannah für alle Fälle auch noch in der ersten Etage nachsehen. Als sie den Lichtschalter im Treppenhaus drückte, versank das Haus in Finsternis.
»Scheiße!«
Plötzlich wurde ihr klar, dass sie sich hier nicht zu Hause fühlte. Warum waren sie überhaupt nach Ambleside gezogen? Seit sie hier wohnten, war eigentlich alles nur noch schiefgegangen.
Sie tastete sich in den Keller zum Sicherungskasten, schaltete das Licht wieder ein und lief erneut nach oben, um die Schlafzimmer abzusuchen. Von Marc keine Spur. Dafür war der beste Koffer nebst einigen seiner Kleidungsstücke verschwunden. Zumindest hatte er das Haus aus freien Stücken verlassen und lag nicht irgendwo zusammengeschnürt als neuestes Opfer des Mörders von Stuart Wagg. Trotzdem empfand Hannah diesen Gedanken nicht unbedingt als tröstlich. Eine kurze Inventur seiner Sachen ergab, dass er genug mitgenommen hatte, um einige Tage damit auszukommen. Eine Woche vielleicht.
Mistkerl! Er hatte es also darauf angelegt, sie ins Schwitzen zu bringen. Natürlich hatte es schon öfter Streit gegeben - oft sogar -, aber noch nie war er weggelaufen. Es lag in seiner Natur, eifersüchtig auf Hannahs Freundschaften mit anderen Männern zu reagieren - Ben Kind und Nick Lowther fielen ihr ein -, aber nie hätte sie erwartet, dass er einen Aufstand wegen Daniel machen könnte. Zumal absolut nichts zwischen ihnen geschehen war. Einmal abgesehen von dem Kuss heute.
Hannah kehrte in die Küche zurück und machte sich einen Kaffee. Stark, schwarz und glühend heiß. An der Pinnwand neben der Kaffeemaschine hing ein Bild von ihnen beiden. Marc hatte damals einen Restaurantbesucher gebeten, sie zu fotografieren, als er sie anlässlich ihres vorletzten Geburtstags in einen Gourmettempel außerhalb von Keswick ausführte. Sie lachten in die Kamera. Sein Arm lag um ihre Taille. Normalerweise hatte Hannah die schlechte Angewohnheit, immer düster dreinzublicken, wenn sie fotografiert wurde, doch auf diesem Bild sahen sie beide sorglos und fröhlich aus. Hannah hatte sich bereits gefragt, ob Marc dieses Bild dort aufgehängt hatte, um sich daran zu erinnern, dass sie es manchmal fertigbrachten, wie das typische glückliche Vorzeigepaar zu wirken. An diesem Abend allerdings würde es mehr als ein Foto brauchen, um sie wieder zu vereinen.
Wo mochte Marc sein? Wahrscheinlich bei seiner Mutter in Grange-over-Sands. Mrs Amos würde ihn mit weit geöffneten Armen willkommen heißen. Er war ihre Freude und ihr Stolz, und keine Frau der Welt schien je gut genug für ihn. Die alte Dame hatte von jeher nicht zu Hannahs Fanklub gehört; erst anlässlich ihrer Weihnachtseinkaufstour
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