Zu Staub Und Asche
vertrauten Gerüchen nach Alter und Desinfektionsmittel begrüßt. Als sie dem sommersprossigen Mädchen am Empfang ihren Namen nannte, wurde die Polin ausgerufen, die sie bei ihrem letzten Besuch kennengelernt hatte.
Kasia gab sich kleinlaut, fast mürrisch. Ohne Hannah anzusehen, fragte sie: »Sie haben es also noch nicht gehört?«
Hannah spürte, wie sich ihre Kehle zusammenzog. Es war nicht schwer zu erraten, was jetzt kommen würde.
»Was ist mit Mrs Friend?«
»Sie ist vergangene Nacht gestorben.« Kasia war blass. Hannah hatte den Verdacht, dass sie zu sehr mitlitt, um an einem Ort wie diesem zu arbeiten, wo der Tod so häufig zu Besuch kam. Trotzdem hoffte sie, dass die junge Frau sich nicht verändern würde. »Ganz sanft. Sie ... sie ist einfach hinübergedämmert.«
»Das tut mir leid.«
»Es ist dieses Wetter.« Kasias Stimme wurde hart, als ob sie endlich den Schuldigen für ihre Trauer gefunden hätte. »Es ist nicht gut für unsere Bewohner. Nicht nur kalt, sondern obendrein auch noch feucht. Ungesund!«
»Tut mir leid. Das wusste ich nicht.«
»Ich mochte sie«, sagte Kasia. »Ich weiß, man sollte niemanden bevorzugen, aber ich kann nicht dagegen an.«
»Seien Sie nicht zu hart gegen sich. Dieses Verhalten ist menschlich«, tröstete Hannah sie. »Was passiert mit ihren Sachen?«
»In Shropshire wohnt eine Nichte, die ein-oder zweimal zu Besuch kam - wohl, weil sie es für ihre Pflicht hielt. Sie sagte jedenfalls, sie habe mit ihrer Familie und ihrem Job zu viel zu tun.«
»Hatte Daphne irgendwelche Papiere verwahrt - Dinge, die mit ihrer Tochter zu tun haben?«
»Meinen Sie das Mädchen, das gestorben ist?«, fragte Kasia düster. »Nicht viel. Nur ein paar Bücher.«
Bücher. Sie konnte ihnen nicht entkommen.
»Dürfte ich sie kurz sehen?«
Kasia winkte müde ab. »Sie sind Polizistin - Sie dürfen tun, was immer Sie wollen.«
»Ach, wäre es doch nur so!« Hannah lächelte. »Vielen Dank für Ihre Hilfe! Ich werde Sie auch bestimmt nicht lang aufhalten.«
Kasia begleitete sie zu einem Lagerraum. Daphnes irdische Habe war in einigen in braunes Papier eingeschlagenen und mit rotem Bindfaden verschnürten Paketen sowie einem großen, offenbar weit gereisten Koffer untergebracht. Für einundsiebzig Jahre Leben schien es recht wenig zu sein, aber es würde trotzdem keinen Unterschied machen, wenn die alte Dame ein mit seltenen Schätzen vollgestopftes Haus wie Crag Gill zurückgelassen hätte. Stuart Wagg war nicht weniger tot als Daphne Friend.
»Ihre Kleider sind im Koffer.« Kasia begann, die Pakete zu öffnen. »Die Bücher und ihre Lesebrille haben wir hier.«
Es waren etwa zwei Dutzend Bücher. Drei Catherine Cooksons, eine Handvoll häufig gelesener Episoden der Liverpool-Saga. Die meisten der übrigen Romane waren ganz anders, nicht zuletzt, weil ihre Rücken kaum Gebrauchsspuren aufwiesen. Hannah fand Schiffsmeldungen, Corellis Mandoline, Mitternachtskinder sowie Die Straße der Geister und bei den nagelneuen Taschenbüchern ein völlig unberührtes Exemplar von Besessen.
Und sie wollte Kriminalistin sein? Nachdem sie jahrelang mit einem Bücherkenner gelebt hatte, warf sie einen Blick auf Daphnes Bücher und brachte es noch immer nicht fertig, die auffälligen Geschmacksunterschiede richtig einzuschätzen. Natürlich war es möglich, dass ein und derselbe Mensch sowohl Catherine Cookson als auch Pat Barker liebte. Damit verstieß man gegen keinerlei Regel. Aber war es wirklich möglich, dass Daphne Friend ein Faible für Salman Rushdie hatte? Hannah nahm Besessen in die Hand. Es war das einzige Buch von Antonia S. Byatt, das sie je gelesen hatte, vor allen Dingen deshalb, weil sie gemeinsam mit Marc den Film im Fernsehen gesehen hatte. Es war eine Art Kriminalroman, in dem es jedoch nicht um professionelle Ermittler, sondern um Literaturwissenschaftler ging.
Sie begann es durchzublättern, kam jedoch nicht über die Titelseite hinaus. Unter dem Namen der Autorin standen in einer runden, extravaganten Handschrift, die Hannah kannte, weil Marc eine Weihnachtskarte in derselben Schrift bekommen hatte, die Worte:
Für Bethany, meine Herzallerliebste, die weiß, dass nur die Weisen im Besitz von Ideen sind; die meisten Menschen sind von Ideen besessen.
Ich liebe dich. Cassie
Cassie war die geborene Geschichtenerzählerin. Alles passte: ihre weiche, kehlige Stimme ebenso wie ihre Gabe, Marcs Vorfreude auf das nächste Kapitel aufrechtzuerhalten. Und bei Gott - sie war
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