Zu Staub Und Asche
wankte. Eine hübsche Journalistin interviewte einen Mann, mit dem er lange telefoniert und mehrere E-Mails ausgetauscht hatte, den er aber bisher nicht persönlich kennengelernt hatte. Er hatte einen glatt rasierten Kopf, war gebräunt und trug ein modisch schwarzes Hemd und ebensolche Slipper. Die Bildunterschrift wies ihn als Arlo Denstone aus, Direktor des Thomas-de-Quincey-Festivals.
»De Quincey ist den Leuten viel zu wenig bekannt«, sagte Arlo Denstone. »Wenn man nachhakt, erinnert sich der eine oder andere vielleicht noch an die wilden Halluzinationen in Bekenntnisse eines englischen Opiumessers und die böse Satire namens Der Mord als eine schöne Kunst betrachtet.«
»War de Quincey nicht mit Wordsworth befreundet?«
»Sie haben Ihre Hausaufgaben hervorragend gemacht, Grizelda.« Das Mädchen lachte affektiert. »De Quincey verehrte Wordsworth und wurde sein Freund. Er zog sogar ins Dove Cottage, nachdem der große Dichter nach Rydal Mount übersiedelt war.«
»Und er arbeitete während seiner Zeit im Lake District für verschiedene Zeitschriften, nicht wahr?«
»Ganz richtig, Grizelda. Er gab die Westmoreland Gazette heraus, für die er reißerische Berichte über Gerichtsverfahren wegen Vergewaltigung und Mord schrieb.« Arlo schüttelte den Kopf, wie ein Vater, der die Eskapaden eines geliebten Kindes nicht billigt. »Chesterton bezeichnete ihn als äußerst dekadent.«
»Erzählen Sie uns von dem geplanten Festival«, wechselte Grizelda hastig das Thema.
»Wir möchten daran erinnern, dass es sich bei de Quincey um eine der Ikonen des Lake District handelt. Wir werden sein Leben und Werk mit einer Ausstellung ehren und Lesungen aus seinen Werken abhalten. Der Historiker Daniel Kind wird das Festival mit einem Vortrag eröffnen, dessen Thema die Art und Weise ist, mit der de Quinceys Fantasie durch das Faktum Mord beflügelt wurde. Den Text werden wir im Anschluss veröffentlichen. Mr Kind hat großzügig auf ein Honorar verzichtet, weil der Erlös des Festivals komplett der Unterstützung krebskranker Menschen zugutekommen soll.«
»Sie selbst haben die Krankheit besiegt.«
»Ich gehöre zu denjenigen, denen dieses Glück zuteilwurde.« Arlo senkte den Blick. »Als mir der Präsident der Culture Company die Möglichkeit bot, diesen legendären Literaten zu würdigen und dabei gleichzeitig etwas für einen guten Zweck zu tun, da zögerte ich - wie Sie sich sicher denken können - natürlich keine Sekunde.«
Der Mann weiß sich zu verkaufen, dachte Daniel, während das Interview seinen Lauf nahm. Arlo wirkte in natura ebenso charismatisch und überzeugend wie am Telefon. Er schien ein Gefühl dafür zu haben, welchen Knopf man drücken musste, und wenn er mit Schmeichelei nicht weiterkam, dann forderte er das Gute im Menschen heraus. Wie sollte man ablehnen, wenn man gebeten wurde, etwas für einen guten Zweck zu tun? Arlos Akzent ließ erahnen, dass er einige Jahre in Australien verbracht hatte - zunächst als Dozent, später als Organisator von Literaturfestivals. Schon seit seiner Studentenzeit in Cumbria aber war er ein Fan von de Quincey - eine Verehrung, die er mit Daniel gemeinsam hatte und die die beiden verband. Laut Arlo waren de Quinceys Essays die Werke eines Genies, und in ihrem vollständigen Fehlen jeglicher Zurückhaltung lag etwas sehr Unenglisches. Der depressive, mittellose, fast bösartig scharfzüngige de Quincey war ein unbekümmerter Fantast, dessen schlechte Gesundheit zu seiner Drogenabhängigkeit und seiner voyeuristischen Liebe zum Verbrechen beitrug. Würde er noch leben, stünde er vermutlich fast täglich in den Schlagzeilen der Klatschpresse.
De Quincey faszinierte Daniel, schon weil das Leben des Literaten Parallelen zu seinem eigenen aufwies. De Quincey stammte ebenfalls aus Manchester und hatte in Oxford studiert, bevor der Lake District ihn bezauberte. Seine Faszination für Mord allerdings nahm geradezu besessene Züge an. Er argumentierte, dass grausame Verbrechen einem ästhetischen Anspruch unterworfen waren, und galt als der Erste, der Mordfälle in literarische Unterhaltung umfunktionierte. Seit de Quincey hatte der Mord einen anderen Stellenwert bekommen.
Ein Buch über Mordfälle und Geschichte, mit de Quinceys Ausschweifungen als Einsprengsel? Die Verleger nahmen Daniels Vorschlag mit Kusshand auf, und selbst sein Agent hatte ihn im letzten halben Jahr in Ruhe gelassen. Er hatte unzählige digitale Archive durchforstet und sein Thema ausgearbeitet.
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