Zu Staub Und Asche
dran.«
»Es geht um Ihre Schwester.«
Daniel warf einen Blick auf das Display. Die anrufende Nummer war ihm vertraut. Louises Handy.
Eine plötzliche Angst griff mit kalter Hand nach seiner Kehle. Als er sprach, klang seine Stimme rau und fremd.
»Mit wem spreche ich?«
»Mein Name ist O'Brien, aber das spielt jetzt keine Rolle. Ich rufe wegen Ihrer Schwester an.«
»Ist alles in Ordnung mit ihr?«
»Sie hatte einen Unfall, aber ...«
»Um Himmels willen!«
Daniel musste sich zwingen, nicht zu schreien. Louise durfte nicht sterben! Wie sollte er ohne sie zurechtkommen? In diesem Augenblick wurde ihm klar, wie viel sie ihm bedeutete. Nie hätte er es zugegeben, noch nicht einmal vor sich selbst. Aber er hatte erst den Vater und später dann die Mutter verloren. Dann Aimée. Sogar die exzentrische Miranda hatte ihn verlassen. Nur Louise war immer da. Stark und reizbar zwar und doch der einzige Mensch, dem er vertrauen konnte. Der einzige Mensch, der ihn verstand.
»Immer mit der Ruhe! Ihr ist Gott sei Dank nichts passiert, und sie hat mich gebeten, Sie anzurufen. Der Wagen ist allerdings nur noch Schrott. Polizei und Sanitäter sind hier, aber ...«
»Wo sind Sie?«
»Auf der Brack Road, einen knappen Kilometer vor dem Dorf.«
»Bin schon unterwegs.«
***
»Wir hatten wirklich Glück, wenn Sie mich fragen. Wirklich Glück!«
O'Brien war ein redseliger Dubliner Anfang sechzig. Er hatte mit seiner Frau - einer winzigen Frau mit rot gefärbtem Haar, die strickend auf dem Beifahrersitz ihres alten Vauxhall saß und ihre Gedanken vermutlich als Resultat langjähriger ehelicher Erfahrungen für sich behielt - die Feiertage bei ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn in deren Bungalow in Brack verbracht. Sie waren auf dem Weg zur Fähre nach Holyhead, als Louises Mercedes in einer Kurve ins Schleudern geriet und auf die falsche Straßenseite rutschte. Louise hatte im letzten Augenblick noch gegengelenkt und den Vauxhall nur an der vorderen Stoßstange touchiert, ehe sie in den Straßengraben rauschte.
»Oh ja!«
Es war ein Wunder, dass Louise überhaupt noch vor ihnen stand. Die Motorhaube ihres Autos war zusammengedrückt wie eine Ziehharmonika, doch sie hatte sich mit lediglich einer leicht schmerzenden Schulter und einer Hautabschürfung am Ellbogen daraus befreit. O'Brien war gerade einmal vierzig Stundenkilometer gefahren und hatte seinen Wagen auf der Straße halten können. Der Schaden an seinem Auto schien sich auf einen Kratzer zu beschränken, und weder er selbst noch seine Frau schienen unter einem Schleudertrauma zu leiden. Die Sanitäter hatten sowohl Louise als auch die O'Briens an Ort und Stelle untersucht und allen drei geraten, sich in einer nahegelegenen Klinik genauer untersuchen zu lassen. Das hatten jedoch alle drei rundweg abgelehnt.
Der Regen hatte eine Verschnaufpause eingelegt, und helle Flecken heiterten den trüben Himmel ein wenig auf. Auf einer Weide hinter einer Hecke stand eine struppige, zerrupfte Eiche, deren Stamm von hundert Jahren durch das schmale Tal brausender Stürme krumm geworden war. Vier Herdwick-Schafe beobachteten die Aktivitäten der Rettungsmannschaft mit irritierter Skepsis. In einiger Entfernung sanken Nebelschwaden über die zerklüfteten Gipfel des Kentmere Horseshoe. Das Summen des Abschleppfahrzeugs, das den Mercedes aus dem Graben zog, hing in der Luft.
Louise wartete auf dem matschigen Seitenstreifen. Nach ihrem verängstigten Anruf und der Tatsache, dass sie soeben noch dem Tod ins Auge geblickt hatte, wirkte ihre Ruhe fast surreal. Daniel befürchtete, seine Knie könnten vor schierer Erleichterung weich werden. Louise war dabei, einen pummeligen Polizisten mittleren Alters mit viel Charme davon zu überzeugen, dass unter den derzeit herrschenden tückischen Wetterbedingungen jedem ein solcher Unfall hätte passieren können und dass das Unglück absolut nichts mit unangepasster Fahrweise zu tun hatte. Dem freundlichen Nicken des Polizisten und dem Umstand nach zu schließen, dass der Beamte ohnehin nicht zu Wort kam, vermutete Daniel, dass Louise mit ihrer Argumentation durchaus davonkommen könnte.
»Ihre Schwester wohnt also bei Ihnen in Brackdale?«, erkundigte sich O'Brien.
Erst in diesem Augenblick fiel Daniel auf, dass Louise und er noch nie allein zu zweit zusammengelebt hatten. Ob das wohl gut ginge? Selbst nach Bens Weggang war immer ihre Mutter bei ihnen gewesen.
»Hm ... ja.«
»Sie scheinen mir fast schockierter als sie.« O'Brien
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