Zu viele Flueche
Seine Seiten blätterten zu der Zeichnung eines riesigen, geflügelten Monsters mit einem verzerrten, heimtückisch grinsenden Gesicht. Es war zwar nur Tinte, aber der Anblickwar grässlich. Das echte Ding konnte nur schlimmer sein.
Stirnrunzelnd schlug sie das Buch zu. »Hoffentlich kommt es nicht dazu.«
Sie brachte Stoker in sein Regal zurück. Er protestierte, und wenngleich sie sein Widerstreben durchaus verstand, schaffte sie es einfach nicht, etwas nicht dorthin zurückzustellen, wo es hingehörte. Das war ihre Natur, durch jahrelange Gewohnheit gepflegt.
Sie erinnerte sich an den leeren Sarg des Vampirkönigs. Sie hegte keinerlei Zuneigung für den König, aber dass er nicht da war, quälte sie mehr und mehr.
»Willst du dich wirklich mit einem Dämon herumschlagen?«, fragte Morton.
»Wenn ich muss.«
»Aber der Höllenhund ist nicht gefährlich. Jedenfalls nicht für uns. Warum dein Leben, deine Seele für Leute aufs Spiel setzen, die schon tot sind?«
»Nur weil sie tot sind, heißt das doch noch nicht, dass sie es auch verdienen, in die Hölle gezerrt zu werden.«
Der Gehenkte zappelte angestrengt, schaffte es aber nicht, sich mit seinen erschöpften Gliedmaßen hochzuziehen.
»Kein Grund, mir zu danken«, sagte sie. »Ich mache nur meine Arbeit.«
»Und übertreibst es mit deinen Pflichten, wenn du mich fragst«, sagte Morton.
Aber das Schloss würde weiterhin gepflegt werden. Und da sie die Einzige war, die sich darum kümmern konnte, würde sie tun, was immer notwendig war, um seine Ordnung zu erhalten und all diejenigen zu schützen, lebend oder tot, die es ihr Zuhause nannten. Nichts Geringeres konnten sie von ihr erwarten. Genauso wie sie selbst.
SECHS
Nessy verbrachte die nächsten Stunden damit, in der Bibliothek jeden einzelnen Band über Metazoologie, Dämonologie und Nekromantie zu durchsuchen. Sie fand nichts weiter über Höllenhunde. Nichts darüber, wie man sie beschwor. Nichts darüber, wie man sie ins Jenseits beförderte. Nicht einmal eine einzige Beschreibung der Bestie.
Sie fragte sich, wie die Kreatur ins Schloss gefunden haben konnte. Sie glaubte nicht, dass es Zufall war. Alles andere war schließlich auch aus einem bestimmten Grund hier. Und Margles Schloss war vor zufälligem Betreten durch unnatürliche Kräfte geschützt. Eine Kreatur aus der Unterwelt konnte schließlich nicht so einfach hereinschlüpfen. Der Höllenhund konnte also nur von innen gekommen sein.
Hatte ihn Margle aus der Unterwelt beschworen, mit einer Magie, die so schwarz und geheim war, dass sich nicht einmal in seinen geschätztesten Büchern ein Hinweis darauf fand? Natürlich musste er durch das Zutun des Zauberers hier sein. Aber wie war er losgekommen?
Vielleicht hatte Margle gar nichts damit zu tun. Vielleicht war es alles der Wille des Schlosses. Der Demontierte Dan hatte gesagt, es besäße ein Eigenleben. Das hatte sie bereits gewusst. Aber jetzt, da sein Meister tot war, war es da wirklich zu einem bösen Ort geworden, der sie alle verschlingen wollte? Sie weigerte sich, das zu glauben. Noch. Statt sich also auf Dinge zu konzentrieren, die sie nicht verstand, wandte sie ihre Aufmerksamkeit dem Höllenhund und seiner Entfernung aus dem Schloss zu.
Yazpib den Prächtigen zu befragen erwies sich als fruchtlos. »Es tut mir leid, aber ich habe wenig Erfahrung mit Dämonologie. Zu gefährlich. Viel, viel zu gefährlich.« Die Flüssigkeit in seinem Glas erbleichte beim bloßen Gedanken daran. »Es wundert mich nicht, dass mein Bruder Erfahrung damit hatte. Er war so hinterhältig und verschlagen wie jeder Dämon.«
Also gab es für Nessy nur noch einen Ort, an den sie sich wenden konnte: den Violetten Raum.
Es war aber ausdrücklich verboten, diesen Raum zu betreten. Sie hatte auch nie den Wunsch verspürt, denn dort lebte ein Dämon. Falls Dämonen wirklich lebten. Und nicht nur irgendein Dämon, sondern der mächtige Herrscher einer der tiefsten und dunkelsten Höllen, durch Margles mächtigste Magie an den Raum gebunden.
Nessy hegte dem Violetten Raum gegenüber eine gesunde Vorsicht. Aber sie fürchtete ihn nicht wie Die Tür Am Ende Des Flurs. Oft kam sie daran vorbei, und er verhielt sich nicht im Mindesten seltsam. Hätte sie nicht gewusst, dass sich ein Dämon hinter der Tür befand, so hätte sie auch nicht groß darüber nachgedacht. Doch obwohl sie es wusste, hatte sie es immer lediglich als einen Ort betrachtet, den sie nicht betreten durfte.
Es war die Gewohnheit,
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