Zu viele Flueche
ich mehr als einen gewöhnlichen Nager verschlinge.«
»Und was, wenn es diese hundertste Maus ist, die in deinem Magen landet?«
»Ein guter Spieler spielt seine Chancen aus, wenn sie zu seinen Gunsten stehen.« Er schloss die Augen so weit, dass man meinen konnte, er schliefe. Doch sein Blick blieb auf den Zufluchtsort der Maus gerichtet. »Und Katzen müssen fressen. Es ist ja nicht so, als wäre ich grausam. Ich schubse das arme Ding nicht herum und spiele damit. Ich breche ihm nur das Genick und schlinge es hinunter.«
Rose drehte sich auf ihrem Stiel und schüttelte ihre Knospe. »Meine Güte, was sind wir gnädig.«
Am einen Ende des Flurs erhob sich großes Gepolter. Fortune bedeckte seine Augen mit den Pfoten. »Was ist denn jetzt wieder los?« Er ärgerte sich, denn der Lärm verjagte mit Sicherheit sein Abendessen. Hätte er nicht gewusst, dass am nächsten Morgen eine Schüssel Milch auf ihn wartete, wäre er äußerst empört gewesen.
»Da kommt was.« Rose drehte ihre Blütenblätter in die Richtung, aus der der Lärm zu hören war, und beugte sich auf ihrem Stiel vor. »Ganz schön laut, was?«
Fortune stellte die Ohren auf. Das Gepolter vibrierte in den Steinen. Es kroch seine Pfoten hinauf und ließ sein Fell zittern. Er versteckte sich in der Dunkelheit hinter ihrem Blumentopf und stellte sich wieder vor, unsichtbar zu sein.
Ein grauer Nebel waberte auf sie zu. Seine Bewegung war so langsam und schwerfällig, als müsse er sich durch die Luft graben. Sein Poltern ähnelte Felsbrocken, die von Blitzen gespalten wurden. Der Dunst driftete scheppernd zum Fenster, und Stein materialisierte vor der kleinen Öffnung zur Außenwelt.
»Hey, das brauch ich!«, schrie Rose. »Ich bekomm auch so schon kaum genug Licht!«
Der Nebel griff herab und wirbelte um die Sonnenblume herum. Fortune wich zurück, die Nackenhaare gesträubt.
»Was tust du?«, wollte sie wissen. »Hilf mir!«
Er hatte keine Ahnung, was er tun konnte, um den Nebel aufzuhalten. Als Katze hatte er ja nicht viele Möglichkeiten. Ein tiefes Knurren kroch aus Fortunes Kehle. Statt den Nebel abzuschrecken, spornte er ihn an, indem er nach ihm schlug. Dann drehte er sich um und stürmte davon, in der Hoffnung, ihn vielleicht wegzulocken. Der Nebel jagte ihn ja nicht. Seine eisige Berührung streifte seinen Schwanz und machte ihn taub, aber er hängte ihn rasch ab. Allerdings nicht so schnell, wie er erwartet hatte, weil er ein unerklärliches zusätzliches Gewicht mitschleppen musste. Er hielt in der Dunkelheit aus, die Ohren gespitzt, mit zuckenden Barthaaren. Bald erstarb das Poltern in der Ferne.
Fortune starrte zornig auf seine Schwanzspitze. Das letzte Stück war ein Granitklumpen. Stirnrunzelnd ging er zurück, um nach Rose zu sehen. Die einst so hochgewachsene und zarte Sonnenblume war jetzt zu einem Steinblock geworden. Wenig erinnerte noch an ihre frühere Gestalt. Er entdeckte zwar ein paar Ausbuchtungen hier und da, die ihn an Blätter denken ließen. Neben ihr lagen Felsbrocken verstreut, Ziegel in seltsamen Formen. Sie bildeten eine Spur den Flur entlang.
Er peitschte mit dem Schwanz. Oder versuchte es zumindest. Der Steinbrocken machte ein wirkungsvolles Peitschen unmöglich. Er schabte ungraziös über den Steinboden.
»Nessy«, dachte er laut. »Sie wird wissen, was zu tun ist.«
Er machte sich auf den Weg, seinen Steinschwanz hinter sich herschleppend.
ZWÖLF
Nessy war nicht überrascht, beim Aufwachen einen neuen Tag mit neuen Problemen vorzufinden. Sie wäre erstaunt gewesen, wenn es anders gekommen wäre. So unangenehm, wie sie es sich vorgestellt hatte, fand sie es dann gar nicht, und das beunruhigte sie. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, sich an das Chaos zu gewöhnen, es womöglich sogar akzeptabel zu finden. Das widersprach sowohl ihrer Pflicht als auch ihrer Natur. Sie verbrachte eine nachdenkliche Minute mit der Analyse einer Möglichkeit, in ihren Ansprüchen nachzulassen. Aber als die dafür bestimmte Minute vergangen war, schob sie diese Untersuchungen beiseite und konzentrierte sich auf ihren neuen Tag. Wäre Nessy auch nur einen Hauch egozentrischer gewesen, hätte sie das als unleugbaren Beweis dafür betrachtet, dass sie so vernünftig und effizient war wie immer. Ihr wäre außerdem bewusst geworden, dass ihre Ruhe aus einem stillen Vertrauen in ihre Fähigkeit erwuchs, mit dieser neuen Situation umzugehen. Aber genau dieses bescheidene Selbstvertrauen hielt sie davon ab, diese Tatsache
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