Zu zweit tut das Herz nur halb so weh
pochendem Herzen lief ich nach Hause. Vor dem hinteren
Eingang löste ich die Bänder an meinem Rock. Dann stürzte ich in die Küche, wo
Cora und Nell am Tisch Ãpfel und Kartoffeln schälten. Cora rückte scharrend mit
ihrem Stuhl zurück.
»Mein Gott, Miss Isabelle, wie sehen Sie denn aus? Ihre Momma kriegt
einen Anfall! Ziehen Sie sofort die nassen Sachen aus. Bestimmt ist sie
inzwischen wach, aber vielleicht merkt sie nichts.«
Ich nickte wortlos und schlich mich hinauf. Dabei fragte ich mich,
wie ich meine nackten FüÃe erklären sollte und das Verschwinden meiner neuen
Sandalen. Obwohl es uns finanziell besser ging als den meisten Familien unserer
Gegend, waren Schuhe auch für uns teuer. Trotzdem hätte ich meinen Nachmittag
am Fluss nicht gegen sie eingetauscht.
SECHS
DORRIE, GEGENWART
Die Landschaft wurde hügeliger. Ich hatte nicht geahnt,
dass Miss Isabelles Beziehung zu ihrer Mutter so schwierig gewesen war, sondern
sie für eine artige, behütete und verwöhnte Tochter gehalten, ein typisches
weiÃes Mädchen eben. Irrtum! Miss Isabelle lammfromm? Von wegen. Sie hatte
immer schon ihren eigenen Kopf gehabt.
Dass sie als Teenager für einen schwarzen Jungen geschwärmt
hatte! Leicht war das damals bestimmt nicht gewesen. In meiner Vorstellung
begann Robert Teague zu ähneln, wie ich ihn mir in seiner Jugend vorstellte.
Kein Wunder, dass Miss Isabelle in Robert verliebt gewesen war.
Ihre Offenheit machte es mir leichter, über die Fehlentscheidungen
und Kümmernisse meines eigenen Lebens zu erzählen, ohne ein allzu hartes Urteil
befürchten zu müssen.
»Meiner Momma«, sagte ich, »warâs egal, was ich getrieben hab,
solange sie nicht meine Probleme lösen und nicht mehr Geld für mich ausgeben
musste als unbedingt nötig. Und solange ich sie nicht störte, wenn ihre Kerle
da waren.«
Momma hatte geglaubt, dass einer der Typen ihr Eintritt in ein
besseres Leben werden würde. Nur schade, dass sie sich immer für die Falschen
entschied.
Was bei mir nicht anders war.
Wenigstens verdiente ich mir meinen Lebensunterhalt selbst. Egal,
wie lange ich mich von einem Mann ausnutzen lieà â ich behielt die Kontrolle.
Jedenfalls in den wichtigen Dingen. Meine Kinder waren anständig angezogen und
mussten keinen Hunger leiden. AuÃerdem konnten sie bei den meisten Aktivitäten
der Schule, die extra kosteten, mitmachen. Unser bescheidenes Häuschen war
sauber und aufgeräumt, und sie konnten ihre Freunde jederzeit mitbringen. Dazu
ermutigte ich sie sogar, weil ich wissen wollte, mit wem sie sich herumtrieben.
»Was hat deine Mutter glücklich gemacht?«, fragte Miss Isabelle.
»Momma? Die war zufrieden, wenn sie einen Typ hatte, und noch
zufriedener, wenn ich nicht zu Hause war. Sie hat mich wohl schon geliebt. Aber
damals warâs ihr recht, wenn sie mich nicht so oft gesehen hat. Ich glaube,
jetzt bereut sie das. Sie beklagt sich, dass ich zu viel arbeite und die Kinder
nicht genug Zeit mit ihr verbringen.«
Im Moment konnte sie sich darüber nicht beschweren. Endlich zahlte
es sich aus, dass ich sie vor dem Heim bewahrt hatte, in dem die armen alten
Leute dahindämmerten, bis sie starben. Sosehr Momma mich manchmal nervte, an
einen solchen Ort wünschte ich niemand. Ich griff ihr unter die Arme, so gut
ich konnte, damit sie in ihrem kleinen Apartment in einer sicheren Gegend bleiben
konnte.
Miss Isabelles Mutter schien ziemlich herrisch gewesen zu sein.
Natürlich war damals alles anders, aber ich hatte den Eindruck, dass sie Miss
Isabelle nicht mal genug Luft zum Atmen lieÃ.
Inzwischen hatten wir den Regen in East Texas hinter uns gelassen.
Vor uns sah ich ein Hinweisschild für eine Raststätte. Da der Eistee aus dem
Pitt Grill mir auf die Blase drückte, nahm ich die Ausfahrt. Und eins muss man
den Leuten in Arkansas lassen: Ihre Raststätten sind echt gut. Wahrscheinlich
stecken sie ihr ganzes Geld da hinein statt in die StraÃen.
Als Miss Isabelle und ich uns dem Gebäude näherten, fühlte ich mich
plötzlich in meine Kindheit zurückversetzt. Zwar handelte es sich um eine
öffentliche Toilette, aber sie roch nach Kiefernnadeln wie die Häuschen in dem
Sommerlager seinerzeit. Mein Gott, war ich damals froh gewesen, jedes Jahr zwei
Wochen lang von zu Hause wegzukommen! In dem Schlafsaal voll kreischender
Mädchen konnte ich einschlafen, ohne
Weitere Kostenlose Bücher