Zu zweit tut das Herz nur halb so weh
zur Main Street, bis ich nur
noch einen halben Block von ihm entfernt war. Sobald ich die Bücherei
erreichte, rannte ich hinein, brachte die Bände zum Rückgabeschalter und wandte
mich ab, um wieder hinauszustürzen.
»Wohin so schnell, Miss Isabelle? Wollen Sie denn keine neuen Bücher
mitnehmen?«
»Ich schau später noch mal vorbei. Oder morgen. Tut mir leid, Miss
Pearce, ich bin in Eile.« Ich hatte Angst, Robert aus den Augen zu verlieren.
Miss Pearce rümpfte die Nase und gab ein missbilligendes Geräusch
von sich. »Na ja, einmal ist immer das erste Mal.«
»Ja, Maâam«, rief ich im Hinauslaufen.
Ich setzte mich in die Richtung in Bewegung, in der ich Robert
zuletzt gesehen hatte, ohne ihn ausfindig machen zu können.
Kurze Zeit später trat er aus dem Haushaltswarenladen, steckte eine
kleine Papiertüte in die Tasche und setzte seinen Weg zur Ortsgrenze fort. Ich
folgte ihm, diesmal mit etwa zwanzig Meter Abstand.
Sein Ziel war mir egal; ich wusste nur, dass ich unbedingt mit ihm
sprechen wollte.
Robert überquerte die Stadtgrenze, und ich schlich ihm nach. Nach
etwa einem Kilometer bog er in einen Feldweg ein, der zu den Stufen einer alten
Kirche führte. Die verblichenen Buchstaben auf dem weiÃen Schild davor wiesen
sie als Mt. Zion Baptist Church aus. Unter dem Namen stand: Jedermann
willkommen.
Ich versteckte mich hinter einem Baum und beobachtete, wie Robert
die durchgetretenen Stufen hochstieg und die Kirche betrat.
Ich presste die Stirn gegen den knorrigen Stamm, zupfte eine unreife
Kastanie von einem der unteren Ãste und rollte sie zwischen den Handflächen hin
und her. Was hatte Robert an einem heiÃen Julinachmittag in einer abgelegenen
Kirche verloren? Ich hörte ein Knarren. Robert kam aus einer Seitentür,
irgendein Werkzeug in der Hand, und ging hinter das Gebäude. Ich nahm all
meinen Mut zusammen und folgte ihm. Hinter dem Schindelbau mit der
abblätternden Farbe befand sich eine Laube, die völlig überwuchert war. Robert
zwängte sich hinein, und kurz darauf hörte ich das Schnippen einer
Gartenschere, und die Ranken erzitterten.
Ich holte tief Luft, ging die wenigen Meter zur Laube und duckte
mich an derselben Stelle hinein, an der er sie betreten hatte.
»Mein Gott, Miss ⦠Isabelle!« Erschrocken lieà Robert die Ranke los,
die Gartenschere fiel zu Boden, er wich vor mir zurück. »Fast hätte mich der
Schlag getroffen! Ich dachte schon, ich hätte einen Geist gesehen!«
»Tut mir leid. Ich hätte mich bemerkbar machen sollen.«
Er wischte sich den Schweià von der Stirn, griff nach einem Krug mit
Wasser auf der Holzkanzel und musterte mich.
»Sind Sie mir aus dem Ort gefolgt? Wieso frage ich überhaupt?
Natürlich sind Sie mir gefolgt. Warum sollten Sie sonst hier auftauchen?«
Ich hob eine Hand. »Ich bekenne mich schuldig.«
»Was haben Sie sich dabei gedacht? Ach so, Sie denken nicht weit
voraus, nicht wahr, Isabelle?« Zum ersten Mal brachte er meinen Namen ohne das
Miss davor über die Lippen, doch ich fühlte mich nicht geschmeichelt.
Ich sank auf eine der verwitterten Bänke.
»Passen Sie auf, dass Sie sich keinen Splitter einziehen.«
Ich schob meinen Rock unter meine Oberschenkel. »Ich hab keine Angst
vor Splittern. Und ich bin dir gefolgt, weil ich mit dir reden will. Ich
unterhalte mich gern mit dir und sehe dir gern bei der Arbeit zu. Du
interessierst mich mehr als die meisten Leute, die ich kenne.«
Robert nahm kopfschüttelnd einen weiteren Schluck aus dem
Wasserkrug, bevor er die Gartenschere aufhob und wieder die Ranken zu stutzen
begann.
»Keine Ahnung, was Sie an mir so interessant finden. Ihre Eltern
würden toben, wenn sie wüssten, dass Sie hier bei mir sind. Jedenfalls Ihre
Momma. Und Ihr Daddy würde sich fragen, warum Sie mit einem farbigen Jungen
sprechen, auch wenn ich dieser farbige Junge bin. Klug ist das nicht.«
»Er redet doch auch mit dir. Warum darf ich das nicht?« Mein Vater
hatte uns lange nicht mehr gemeinsam unterrichtet â meine Mutter hatte unseren
Sitzungen ein Ende gemacht â, aber ich sah Daddy und Robert immer noch häufig
miteinander. Er hoffte, dass Robert eines Tages in seine FuÃstapfen treten
würde, denn in Northern Kentucky wurden schwarze Ãrzte gebraucht. Die wenigen,
die es dort gab, reichten mit den weiÃen, die bereit waren, Farbige zu
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