Zu zweit tut das Herz nur halb so weh
der Zeitung überlieÃ, und
er übernahm die letzten Rätselfragen, während ich die Nachrichten las.
Nell kehrte mit der Sahnekanne zurück und blieb am Tisch stehen.
»Das wäre alles«, bemerkte meine Mutter.
In diesem Moment sah ich zu Nell auf, die lächelnd an ihrem
Ohrläppchen zupfte. Ich tippte gegen mein Kinn und schlang aufgeregt den Rest
des Frühstücks hinunter.
»Darf ich aufstehen?«, fragte ich.
Mein Vater warf einen Blick auf meinen leeren Teller. »Das sehe ich
gern, Isabelle. Es scheint dir besser zu gehen. Ja, du darfst.«
»Danke, Daddy.« Ich musste mich beherrschen, nicht zu rennen, und
signalisierte Nell mit einer Kopfbewegung, dass ich in den Garten hinters Haus
gehen würde.
Ich wartete am Lieblingsort unserer Kindheit auf sie, unter einer
hohen Eiche zwischen Küchengarten und Wäscheleine, wo Cora uns früher bei der
Arbeit im Auge hatte behalten können.
Nell, die mir wenig später folgte, nahm ein gefaltetes Stück Papier
aus der Tasche ihres Kleides. Nur eine Seite, das sah ich sofort. Bei dem
Gedanken daran, wie viele ich ihm geschickt hatte, wurde ich rot. Jungen waren
nun einmal anders, im Schriftlichen wie im Mündlichen. Sie beschränkten sich
aufs Wesentliche.
»Hoffentlich hab ich das Richtige getan, Miss Isabelle«, sagte Nell
und drückte mir Roberts Nachricht in die Hand. »Ich weià nicht, was er
geschrieben hat.«
»Hat er sich denn über meinen Brief gefreut?«, fragte ich.
Sie überlegte. »Kann ich nicht sagen. Es scheint ihm besser zu
gehen, aber das College fängt ja auch bald an, und er freut sich darauf.«
Ich schätzte Nells Offenheit, aber ich wünschte mir, Robert hätte
sich auch über meine Aufforderung, mir von seinem Leben zu schreiben, wenn wir
uns schon nicht sehen konnten, gefreut.
In seinem ersten Brief schilderte Robert mir nüchtern seinen Alltag
seit seiner Arbeit an der Mauer. Nicht mehr und nicht weniger. Hätte ein
Dritter ihn gelesen, wäre ihm nichts Verdächtiges aufgefallen. Er sprach mich
nicht persönlich an. In der oberen Ecke stand das Datum, unter dem Text seine
Unterschrift: »Robert Prewitt«. Man hätte die Seite für einen Tagebucheintrag
halten können, der versehentlich bei uns liegen geblieben war.
So ging es bis in den Herbst hinein. Mein letztes Schuljahr begann,
und Robert wechselte ans College ins knapp achtzig Kilometer entfernte
Frankfort. Die meisten Wochenenden verbrachte er zu Hause. Ich wusste, dass ich
nur sonntags oder montags Briefe von ihm erwarten konnte â manchmal lagen zwei
Wochen zwischen zwei Schreiben, wenn er in der Schule blieb, um für Prüfungen
zu lernen oder Hausarbeiten zu erledigen. Unsere Briefe begannen sich zu
überschneiden.
Allmählich schlich sich in Roberts Botschaften ein anderer Tonfall
ein. Er zählte nicht nur die Fakten auf, sondern berichtete auch, was er über
seine Kurse, den Lernstoff und die Mitstudenten dachte. Eines Tages setzte mein
Herz vor Freude einen Schlag aus, weil er das erste Mal ein »Du« verwendete.
Wenn jemand diesen Brief entdeckte, konnte er ihn nicht mehr für einen
Tagebucheintrag halten. Ich drückte das Blatt Papier an meine Brust. Das war
fast wie eine Umarmung.
Ich legte indes noch mehr Gefühl in meine Texte und erwähnte immer
wieder, wie sehr er mir fehle und ich mir wünsche, dass alles anders wäre.
Irgendwann gestand er, dass ich ihm ebenfalls fehle, dass er sich die ganze
Zeit vorstelle, mit mir zusammen zu sein, in aller Ãffentlichkeit mit mir
Händchen zu halten. Mein Herz machte einen Sprung.
Nach diesem Brief sahen wir uns sogar einige Male. Nell verriet mir,
wenn Robert ein langes Wochenende zu Hause verbrachte, und wir verabredeten uns
in der Laube, obwohl es dort kühl und der Boden oft vom Regen feucht und
schlammig war. An Donnerstagen, an denen Robert nach Hause kam, gab ich vor,
mit einer Mitschülerin zu lernen, und rannte, sobald die Schule aus war, zu
ihm. Unsere Treffen waren harmlos. Meist schauten wir einander lächelnd an und
stolperten in unserer Hast, einander alles zu erzählen, was wir in den Briefen
vergessen hatten, über unsere Worte. Nur am Ende küssten wir uns wie damals
nach dem Kirchentreffen.
Natürlich fiel es mir nach jeder Begegnung schwerer, in den Alltag
zurückzukehren. Ich existierte in zwei voneinander unabhängigen Universen und
Leben â
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